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TikTok-Tests sind echtes Problem: Der lange Weg zur ADHS-Diagnose

Da, in dem Gebüsch! Hat sich da nicht gerade etwas bewegt? Während der Rest seiner Familie weiter den Boden nach essbaren Kräutern absucht, kann sich der junge Mann einfach nicht mehr auf seine Aufgabe konzentrieren.

Er hebt einen herumliegenden Stein auf, wiegt ihn kurz in den Händen und als es wieder raschelt, feuert er ihn mit voller Wucht in das Gebüsch. Ein Brüllen schreckt auch den Rest des Clans auf, dann stiebt ein langer und gefährlich aussehender Schatten davon. Wir schreiben das Jahr 18.345 vor Christus, und der junge und sehr hibbelige Jäger hat seinem Stamm gerade das Leben gerettet. Auch wenn er weder weiß, was Buchstaben sind, noch was diese im Speziellen bedeuten: Geholfen hat ihm dabei seine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS.

So jedenfalls erklärt sich der US-Autor Thom Hartmann die Existenz- und Berechtigungsgrundlage einer der momentan meistbeachteten neurologischen Störungen. Und wischt mit seiner Hunter/Farmer-Theorie gleichzeitig vom Tisch, dass es sich bei ADHS überhaupt um eine Krankheit handelt. Dr. Tanja Richter-Schmidinger widerspricht vehement: „Das mag eine schöne Erklärung sein, aber sie ist schlicht zu einfach und einseitig“, sagt die Psychologin, die am Uniklinikum Erlangen ADHS-Diagnostiken durchführt. „Wenn die Jäger der Steinzeit wirklich alle ADHS gehabt hätten, wäre der Säbelzahntiger vielleicht nicht rechtzeitig gesehen worden.“ Schließlich ist Unaufmerksamkeit eines der Hauptattribute der Störung und steht nicht umsonst direkt im Namen.

Menschen mit ADHS haben oft viele Gedanken gleichzeitig und können sich schlecht auf einen konzentrieren. Sie sind leicht ablenkbar, ungeduldig und schnell gelangweilt, suchen immer wieder neue Kicks. Ihre Stimmung kann stark schwanken. Viele rauchen, neigen zu anderen Süchten oder machen Extremsport. Gleichzeitig fühlen sie sich oft von Reizen überflutet und erschöpft. So wie der Autor dieses Textes. „Bei ADHS ist der Dopaminspiegel dauerhaft zu niedrig“, sagt Richter-Schmidinger. „Dieser Botenstoffmangel im Gehirn führt immer wieder zu Handlungen, die Dopamin freisetzen und so stimulieren und belohnen.“

Leben auf der Rasierklinge

Bei rund fünf Prozent liegt die Prävalenzrate bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, im Erwachsenenalter geht man heute immer noch von zwei bis vier Prozent aus. In absolute Zahlen übersetzt bedeutet das also, dass mindestens zwei Millionen Deutsche über 18 Jahren mit ADHS leben – viele davon undiagnostiziert. Für die Betroffenen bedeutet das, je nach Schwere ihrer Störung, ein ständiges Leben auf der Rasierklinge: Der Bereich, in dem sie mit sich und der Welt im Reinen sind, ist deutlich kleiner als beim Gros der Bevölkerung – und die ständige Suche danach auf Dauer enorm ermüdend. „Die Folge sind Sekundärkrankheiten und klassische Erschöpfungssymptome: Burnout, Depression, Sucht“, sagt Richter-Schmidinger, die das komplette Spektrum bei ihrer täglichen Arbeit hautnah erlebt.

Die gute Nachricht: ADHS lässt sich gut behandeln. Seitdem das Thema seit ein paar Jahren stärker in der öffentlichen Wahrnehmung präsent ist und sein Stigma vom unbelehrbaren Zappelphilipp mehr und mehr verliert, steigt die Zahl derer, die sich diagnostizieren und behandeln lassen wollen, rasant. „Seitdem Neurodivergenz ein Thema in den sozialen Medien ist, bekomme ich täglich vier bis fünf Anfragen pro Tag“, sagt Richter-Schmidinger. Längst nicht alle von ihnen hätten allerdings Hand und Fuß: „Mir schreiben viele Personen, die wegen eines ‚Tests‘ auf Tiktok oder Instagram felsenfest überzeugt sind, an ADHS zu leiden. Dabei hat jeder mal Probleme mit der Impulskontrolle, das Gesamtbild ist entscheidend.“ Und das zu ermitteln, ist ein aufwändiger Prozess.

Mindestens vier bis fünf Stunden müssen sich Diagnostiker persönlich mit einem einzelnen potenziellen Patienten beschäftigen: Der Prozess beinhaltet das Ausfüllen von langen Fragebögen und die Begutachtung von Schulzeugnissen genauso wie eine Befragung von Angehörigen und lange, intime Interviews mit den Patienten selbst. Psychologin Richter-Schmidinger taucht bei jedem ihrer Klienten tief in die Vergangenheit ein – die Auswertung der Ergebnisse im Anschluss nimmt dann noch einmal in etwa so viel Zeit ein wie die Tests selbst, am Ende des Prozesses steht eine detaillierte mehrseitige Diagnose mit Handlungsempfehlungen.

Viele Monate auf einen Termin warten

Bei der hohen Zahl der Anfragen können Richter-Schmidinger und ihre Kolleginnen und Kollegen unmöglich zeitnah hinterherkommen. Und tatsächlich sind die Wartelisten für eine Diagnose bei Fachärzten lang, es kann viele Monate bis zu einem Termin dauern – auch weil es schlicht und ergreifend zu wenige ADHS-Diagnostiker in Deutschland gibt.

Dass potenzielle ADHS-Patienten zwischen 20 und 50 Anlaufstellen abklappern müssen, bis sie schließlich auf eine Warteliste in ferner Zukunft gesetzt werden, ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Die langen Wartezeiten und der dezentralisierte Prozess führen unweigerlich zu einer Rückkopplung: Um überhaupt Aussicht auf Hilfe zu bekommen, braucht es viel Ausdauer, Geduld und eine solide Planung und Organisation: Also genau die Eigenschaften, mit denen Menschen mit ADHS zu kämpfen haben. Ein stabiles soziales Netz und die Hilfe von Familien und Freunden sind in dem Fall Gold wert – viele, die das nicht haben, geben irgendwann verzweifelt wieder auf und versuchen, sich weiter durchzuschlagen.

Eine Meta-Studie beziffert die Mehrkosten von unbehandeltem ADHS alleine in den USA auf 143 bis 266 Milliarden Dollar – pro Jahr. Es wäre also auch im Interesse des Staats und der Allgemeinheit, bei der ADHS-Diagnose nachzusteuern – ganz zu schweigen vom Leidensdruck der Betroffenen. „Auch wenn es kompliziert und aufwändig ist: Wir brauchen dringend mehr Leute, die sich mit der Diagnose beschäftigen und das auch gerne machen“, sagt Richter-Schmidinger.

Ob und wie ADHS im Anschluss an eine positive Diagnose behandelt wird, darüber entscheidet vor allem der persönliche Leidensdruck. Leitliniengemäß bekommen Patientinnen und Patienten zuerst umfassende Informationen über ihre psychische Besonderheit. Als Zweites stehen Medikamente, gegebenenfalls kombiniert mit einer Verhaltenstherapie, zur Verfügung. Ritalin, Medikinet, Elvanse & Co. regulieren den Gehirnstoffwechsel der Patienten und erlauben ihnen, ein vergleichsweise normales Leben zu führen.

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