Eine knappe Woche nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen geht für die SPD-Spitze schon wieder der Wahlkampf los: Parteiintern werben die Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken für eine Zustimmung ihrer Mitglieder zur Koalition mit der Union.
Der Eindruck nach der ersten „Dialogkonferenz“ der SPD in Hannover: An der Basis herrscht erhebliche Skepsis, erkennbar an zahlreichen kritischen Fragen. Und am nur freundlichen Applaus, mit dem Klingbeil und Esken begrüßt werden.
Als Esken sagt, sie finde, das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen könne sich sehen lassen, macht ein Mann im Publikum ein abfälliges Geräusch, das man mit „Wie bitte?“ übersetzen könnte. Aber das war es auch schon. Proteste gegen Schwarz-Rot gibt es nicht, nicht vor der Halle und nicht drinnen. Kein Juso steht auf, um Sprechchöre gegen Friedrich Merz anzustimmen. Nicht einmal Flyer gegen die schwarz-rote Koalition liegen aus.
Es gibt Alternativen, „aber keine ist gut“
Allerdings wird zwei Mal die Frage gestellt, was denn passiere, wenn die Mitgliederbefragung scheitere – der Gedanke von Nachverhandlungen wabert durch den Raum. Klingbeil erteilt dem eine Absage. „Das funktioniert nur in der Theorie“, sagt er. Früher, im Juso-Bundesvorstand, habe er es gehasst, wenn Leute ihm gesagt hätten, etwas sei alternativlos. Auch jetzt gebe es Alternativen, „aber keine davon ist gut für unser Land“. In der Union erkenne er bereits Bestrebungen, eine Normalisierung im Verhältnis zur AfD zu erreichen, berichtet der SPD-Chef. Das sei ihm in den Koalitionsverhandlungen zwar nicht begegnet, „aber die Stimmung gibt es, und wenn wir scheitern, dann werden die lauter“.
Die Genossinnen und Genossen, die in den Veranstaltungsaal in Hannover gekommen sind, haben alle möglichen Fragen. Einer fordert den geschäftsführenden Verteidigungsminister Boris Pistorius auf, sich mal mit einem Klimaforscher zu unterhalten. Dann werde er verstehen, „dass wir uns keine Kriege und Aufrüstung mehr leisten können, sondern in Klimaschutz investieren müssen“. Mehrere Fragesteller sprechen die immer höheren Pflegekosten an, andere sehen den Achtstundentag bedroht, weil im Koalitionsvertrag von der Möglichkeit einer „wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit“ die Rede ist. Eine jüngere Genossin kritisiert, dass Fachkräfte zwölf Monate auf ein Visum warten müssen. Eine ältere Dame fragt nach der Wehrpflicht, mehrere Genossen nach dem Umgang mit der AfD.
Sauer auf Spahn
Mehrfach kommt in den Fragen Ärger über Unionsfraktionsvize Jens Spahn zum Ausdruck. Der CDU-Politiker hatte am Wochenende gesagt, man solle mit der AfD im Bundestag bei organisatorischen Fragen so umgehen wie mit anderen Oppositionsparteien auch. Alle, die sich dazu äußern, verstehen dies als Versuch einer Normalisierung. Das sei „wirklich sehr, sehr empörend und gefährlich“, sagt Esken. Die AfD werde demokratisch gewählt, aber keine demokratische Partei sei sie damit nicht.
Esken fordert kein AfD-Verbot, sagt aber, ein entsprechender Antrag müsse vorbereitet werden, um entscheiden zu können, ob der Moment richtig und die Erfolgsaussichten vorhanden seien. Pistorius scheint von der Idee eines Verbots nicht so viel zu halten. Auch eine wehrhafte Demokratie könne sich niemals selbst verteidigen, sagt er, „das müssen immer Menschen tun“.
„Jetzt soll er noch Finanzminister werden“
Esken und Klingbeil haben sich für die vielen Fragen Unterstützung mitgebracht: neben Pistorius sind der geschäftsführende Arbeitsminister Hubertus Heil und SPD-Generalsekretär Matthias Miersch gekommen – alle drei wie Klingbeil aus Niedersachsen. Außerdem die Ministerpräsidentin des Nachbar-Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig. Sie ist es, die dem Parteifreund mit der Klima- und Verteidigungsfrage deutlich Contra gibt. Es sei an der Zeit, „diese ungesunde Konkurrenz“ zwischen Themen wie Klimaschutz, Verteidigung und sozialer Sicherheit aufzugeben. Alles drei sei nötig – auch die Verteidigung. Pistorius stimmt zu: Täglich gebe es hybride Angriffe von Russland. Russland rüste auf wie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. „Wir müssen wieder abschreckungsfähig sein.“ Weder Klimawandel noch Verteidigung dürften gegen die soziale Sicherheit gestellt werden.
Durch die Sechsergruppe, die die Fragen der Basis beantwortet, entsteht der Eindruck eines Teams, was vor allem Klingbeil entlastet. Sein Vorgehen, sich nach dem für die SPD desaströsen Wahlergebnis zum Fraktionsvorsitzenden wählen zu lassen, stößt selbst hier, in seiner Heimat, auf Kritik. Schon zu Beginn der Veranstaltung verspricht er: Das Wahlergebnis werde aufgearbeitet. Es werde personelle, organisatorische, auch inhaltliche Konsequenzen geben. Welche? Das soll im Sommer auf einem Parteitag diskutiert werden.
Öffentlich thematisiert wird die Kritik an Klingbeil nicht – sie ist dennoch da. „Und jetzt soll er auch noch Finanzminister werden“, sagt eine Genossin nach der Veranstaltung über entsprechende Gerüchte. „Ich hoffe, das ist nicht der Grund, warum er so freundlich mit Merz umgeht.“
Attacken gegen die Union kommen vor allem von „Hubi“
Wahrscheinlich ist das nicht der Grund, schließlich entscheidet nicht CDU-Chef Merz, wer für die SPD am Kabinettstisch Platz nimmt – das entscheidet Klingbeil, in Absprache mit Esken und anderen aus der Parteispitze. Aber Klingbeil hat sich erkennbar vorgenommen, aus Schwarz-Rot keine Neuauflage der Ampel werden zu lassen und öffentlichen Streit zu vermeiden.
Klare Ansagen überlässt er anderen. Vor allem „Hubi“, wie Generalsekretär Miersch Hubertus Heil nennt. „Bitte nicht Opfer von CDU-Propaganda werden“, ruft der in den Saal, als ein Juso darauf verweist, dass Merz die von der SPD als Erfolg verkauften 15 Euro Mindestlohn wieder kassiert habe. Ohne die SPD in der Bundesregierung werde es gar keine Mindestlohnerhöhung geben, so Heil. „Lasst uns die Mindestlohngeschichte der SPD nicht kaputtreden“, fordert er. „Wir werden ihn weiter erhöhen, damit er armutsfest ist.“
Aber Heil räumt auch ein, dass laut Koalitionsvertrag nicht die Bundesregierung den Mindestlohn erhöhen soll, sondern die Mindestlohnkommission. Er zeigt sich allerdings sehr zuversichtlich, dass die das tun wird. Und er verweist darauf, dass ein Bundestariftreuegesetz geplant sei: Öffentliche Aufträge sollen nur noch an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen. Dann räumt Heil ein, die Formulierung zum Achtstundentag sei „ein schwieriger Kompromiss“ gewesen. Deshalb sei es ja „so verdammt wichtig, dass die SPD das Arbeitsministerium behält“. Das sei nicht selbstverständlich gewesen, die Union habe „uns das wegnehmen“ wollen.
„So manchen Unfug gestoppt“
Es ist eine Mischung aus dem Eingeständnis, nicht alles erreicht zu haben, Erfolgsgeschichten und Appellen an das sozialdemokratische Wir-Gefühl. Das kommt gut an. Schon im Wahlkampf habe die CDU „viel Meinung und wenig Ahnung“ in der Sozialpolitik gehabt, ruft er in den Applaus des Publikums.
Kurz vor der Dialogkonferenz in Hannover hatte Juso-Chef Philipp Türmer die Ablehnung seines Verbands offiziell gemacht. „Unser Votum lautet Ablehnung“, sagte Türmer am Morgen bei ntv. „Für die Zustimmung der Jusos bräuchte es deutliche Nachbesserungen.“
In zentralen politischen Feldern Asyl und Migration sowie Arbeit und Soziales gehe der Vertrag den falschen Weg, so Türmer. Das sehen in Hannover nicht wenige so. Klingbeil sagt, für die SPD sei klar gewesen, dass Migration „geordnet und gesteuert werden“ muss. Als Erfolg der SPD führt er an: „So manchen Unfug der Union haben wir in diesen Koalitionsverhandlungen gestoppt.“ So sei das Grundrecht auf Asyl nicht angetastet worden.
„Es hilft ja nix“
Zumindest Teile der Basis können diese Argumentation nachvollziehen, wenn auch eher zähneknirschend. Eine Genossin ist zwar höchst unzufrieden über die migrationspolitischen Teile des Koalitionsvertrags. Vor der Veranstaltung erinnert sie daran, dass Merz ukrainischen Flüchtlingen „Sozialtourismus“ vorgeworfen hat, 2022 war das. „Aber es hilft ja nix, wir brauchen eine Regierung“, sagt sie.
Überzeugt ist sie zwei Stunden später immer noch nicht. Dennoch müsse die SPD wohl „in den sauren Apfel beißen“. Denn: „Wir müssen Antworten finden auf Dinge, die AfD-Wähler scheiße finden. Das wird keinen Spaß machen. Aber es muss halt sein.“
Ähnlich wenig Illusionen macht sich ein Parteifreund. Angesprochen auf die Kritik der Jusos verweist er auf Berichte über die ebenfalls nicht gerade gute Laune bei der CDU. „Wenn beide Seiten unzufrieden sind, ist das Verhandlungsergebnis vermutlich ganz gut“, sagt er und lacht. Wie entscheidet er sich in der Mitgliederbefragung? „Ich bin geneigt, dem zuzustimmen.“ Aber, das ist ihm wichtig, „nicht weil ich Angst vor Neuwahlen habe“.
Die Mitgliederbefragung startet am Dienstagmorgen. Bislang ist nur ein weiteres Dialogforum geplant, Ende April im nordhessischen Baunatal, drei Tage vor dem Ende des Mitgliederentscheids. Daneben soll es Online-Veranstaltungen sowie Diskussionen in den Landesverbänden und Bezirken geben. Bis zum 29. April können die rund 360.000 SPD-Mitglieder dem Eintritt ihrer Partei in eine Koalition mit der Union zustimmen oder sie ablehnen. Am 30. April soll das Ergebnis verkündet werden. Für die Parteispitze ist es bindend – keine Mehrheit, keine Koalition.