Bevor sich Box-Legende Mike Tyson und Jake Paul im polarisierendsten Kampf des Jahres richtig auf die Mütze gaben, feierten die beiden Kämpfer einen ersten Knockout. Die Server des Streaminggiganten Netflix knickten reihenweise ein, sehr zum Ärger der Zuschauer rund um den Globus. Riesig, gigantisch war das Interesse an diesem Duell, das die Boxwelt spaltet. Ein alter Mann, der immer wieder Geldsorgen und nicht viel mehr als seinen großen Namen hat, gegen ein junges Großmaul, das immer noch mehr Influencer als Boxprofi ist.
Schadet dieser Kampf dem Boxen? Oder verschafft er dem Sport neuen Glanz? Diese Frage wurde seit Wochen diskutiert und fand keine Antwort. Bei „Tyson gegen Paul“, so lautete die Kritik, verkommt der Sport zu einem vorgefertigten, inszenierten Streaming-Paket. Der Kampf verschiebt Grenzen im Hinblick auf Fusion von Sport und Unterhaltung und stellt – unbeabsichtigt – infrage, was noch Sport ist und was nicht.
Auch nach diesem Abend gab es keine allumfassende Antwort. Zu skurril war das, was sich da im Ring tat. Paul kam, ganz der schillernde Typ Super-Influencer, in einem Chevrolet zum Ring gefahren. Protz ist sein Ding. Anders Tyson, das ehemalige Biest, die Legende. Er begnügte sich mit einem Walk-on, ganz klassisch, voll fokussiert. Er hatte nichts anderes im Kopf, als dem aufmüpfigen Jüngling richtig eine zu knallen, ihn früh auszuklingeln. 19 Jahre nach Tysons letztem Profikampf, damals verlor er gegen Kevin McBride, hat es der Influencer tatsächlich geschafft, die polarisierende Ikone zu einem offiziellen Schwergewichts-Fight zu überreden.
Tysons Abwehrarbeit ist gut, mehr nicht
Doch es kam anders als von Tyson geplant. Dem alten Mann ging früh die Puste aus. Er war über die gesamte Distanz viel zu langsam und behäbig. Paul, der in der ersten Runde aufpassen musste, nicht einen harten, verhängnisvollen Punch zu kassieren, konnte nach Belieben auf den 58-Jährigen eindreschen, der taumelte, bekam kaum die Deckung hoch und verlor nach Punkten. 78 von 278 Schlägen, so die Statistik, brachte Paul ins Ziel. Tyson schlug nur 97-mal zu, traf mickrige 18-mal. Immerhin dem drohenden Knockout, ab Runde vier, war Tyson entgangen. Denn wurde er von diesem jungen Kerl entzaubert, dem er beim Wiegen noch eine amtliche Schelle für dessen Provokationen verpasst hatte.
Tyson startete extrem forsch und aggressiv. Er war offenbar auf eine Blitzentscheidung aus, wohlwissen um die ungleiche Physis. Er landete in den beiden ersten Runden mehr Treffer. Danach übernahm der deutlich fittere Paul und setzte der Legende mehrfach massiv zu. Er übernahm die Kontrolle und hatte alles weitgehend im Griff. Das maximale Risiko eines Knockoutversuchs scheute er aber. Vielleicht auch in der Angst, sich doch noch einen fatalen Konter des Altmeisters zu fangen. In den Schlusssekunden stellten beide den Kampf ein und der klar überlegende und plötzlich ehrfürchtig wirkende Paul verbeugte sich vor Tyson.
Hernach fanden beide aber versöhnliche Worte. Sieger Paul war voll des Dankes für diesen Kampf: „Mike Tyson ist der GOAT. Es war eine Ehre, dass ich gegen ihn kämpfen durfte.“ Und Tyson befand, trotz seiner erschreckend schwachen Performance: „Ich bin sehr zufrieden. Ich bin nicht überrascht. Ich muss niemanden etwas beweisen.“ Für Paul ist der Sieg ein großer Erfolg, nicht nur für sein Image. Das von Netflix als Riesenshow inszenierte Event war nämlich auch als offizieller Kampf anerkannt. Er verbuchte damit seinen elften Sieg im zwölften Kampf. 72.300 Zuschauer verfolgten die Veranstaltung im Football-Stadion der Dallas Cowboys.
Immer wieder Geldsorgen bei Tyson
Der Kampf nun ist das bittere Ende einer Legende, die im Ring ein unverwüstlicher König war und am Leben immer und immer wieder scheiterte. Er hatte es der Welt nochmal zeigen wollen. Er, der seine Gegner zwischen 1985 und 2005 verwüstete wie eine nicht zu bändigende Naturgewalt. Mit seinem legendären Pendeln im Oberkörper, mit der maximalen Beweglichkeit im Rumpf, mit den schnellen, donnernden, aggressiven Schlagkombinationen. Doch von dieser Klasse war Tyson weit entfernt. Meilenweit entfernt. Auch Paul brillierte nicht mit großem Boxen, er konnte diesen Kampf über die Physis gewinnen. Ausgerechnet gegen das Biest.
Tyson hatte einst geschworen, nie wieder in den Ring steigen zu wollen. Aber er musste wiederholt mit diesem Wort brechen. Vermutlich lockte ihn erneut die große Börse, die er mit diesem Kampf machte. Angeblich bis zu 40 Millionen Dollar soll jeder Kämpfer bekommen haben. Wie lange Tyson dieses Geld reicht? Man weiß es nicht. Denn der Umgang mit den Dollar, der ist seit jeher das Lindenblatt des Boxers. Der Sport hatte Tyson zwar aus der Gosse geholt, ihn aber auch vernichtet. Bei mehreren Kämpfen stand er völlig unter Drogen.
Und nun? War’s für Tyson? Nein, offenbar nicht. Obwohl er körperlich klar unterlegen war, für sein Alter aber dennoch in einem guten Zustand, spürt er noch reichlich Energie in sich. „Ich glaube nicht, dass es mein letzter Kampf war“, sagte er. Jake Pauls Bruder Logan, ebenfalls boxender Youtuber, stünde wohl als Gegner bereit. Ob das wirklich noch Sport ist? Vielleicht gab dieser Abend ja doch eine klare Antwort auf diese Frage.