Gegen Spanien rettet Niclas Füllkrug die deutsche Fußball-Nationalmannschaft vor dem WM-Startdebakel. Der Bremer beeindruckt Experten auf der ganzen Welt mit seinem Treffer. Noch vor einem Jahr deutet nichts darauf hin.
Wer ist eigentlich dieser Niclas Füllkrug? Damit verbrachten vor allem internationale Experten ihren Sonntagabend. Der 29-Jährige hämmerte kurz vor Schluss im zweiten WM-Gruppenspiel gegen Spanien den deutschen Ausgleich ins Tor. Die britische „Times“ bezeichnete die große Überraschung im DFB-Kader als den verblüffenden „Killer mit der Zahnlücke“.
Vor allem englischsprachige Journalisten recherchierten dort, wo man schnell einen Überblick bekommt: bei Wikipedia. Was sie fanden, waren sozusagen die Füllkrug-Grundlagen: Seine Frau heißt Lisa, seinen Spitznamen „Lücke“ verdankt er seiner Zahnlücke und dem Ex-Bremer Marco Arnautović, der ihm den verpasst hat. Doch es wird auch spezieller: Nach einem Werder-Training steckte Füllkrug mal der Zahn eines Gegenspielers in der Stirn und er soll sich mit „Eye Of The Tiger“ von Survivor vor Spielen motivieren.
Ob ihm das auch vor dem Spiel gegen Spanien geholfen hat? Das ist nicht übermittelt. Aber es gibt einen Grund, weshalb sich die Experten bei Wikipedia recherchieren mussten. Die französische „L’Équipe“ erklärte die große Unwissenheit rund um Füllkrug vor allem damit, dass sie ihn außerhalb Deutschlands nicht auf dem Zettel hatten, weil er eben nicht in der Champions League spielt. Und hätte die Wüsten-WM, wie eigentlich geplant, im Sommer stattgefunden – Niclas Füllkrug wäre nicht dabei gewesen. Er ist erst seit zwölf Tagen Nationalspieler. Noch im Sommer war er ein Geheimtipp in der deutschen Fußballwelt. Jemand, den vor allem Fußball-Nerds und Werder-Fans kannten.
Im DFB-Team besetzt er nun mit Wucht die deutsche Leerstelle im gegnerischen Strafraum, wo Kai Havertz gegen Japan (1:2) und Thomas Müller bis zu seiner Auswechslung gegen Spanien maximal Behelfslösungen darstellten. „Ich glaube, es war wichtig, dass irgendjemand den Knoten hat platzen lassen“, sagte Füllkrug. „Wir brauchen jetzt auch nicht durchzudrehen, es ist ein 1:1 und kein Sieg.“
Nicht immer war er der, der den Knoten platzen ließ. Seine Karriere lief bislang nicht reibungslos. Bei den Jugendmannschaften machte er sich zwar einen Namen, spielte dort von der U18 bis U20. Doch bei Werder gelang ihm der Durchbruch zunächst nicht. Füllkrug musste einen weiten Umweg gehen: Fürth, Nürnberg, Hannover und dann wieder zurück zu Werder. Auch sein Körper bremste die Karriere aus, die Verletzungshistorie liest sich beängstigend: drei Knorpelschäden, ein Kreuzbandriss, ein Außenbandriss im Sprunggelenk.
Vor einem Jahr machte es seinen WM-Einsatz umso unwahrscheinlicher. Werder vertraute nicht nur auf „Lücke“, sondern holte zusätzlich Marvin Ducksch von Hannover 96. Am Anfang der Saison kam Füllkrug nur zu Kurzeinsätzen, traf selten, Trainer Markus Anfang zog Sturmpartner Ducksch vor. Füllkrug war dann vor allem ein frustrierter Zweitligastürmer. Der große Umschwung kam erst nach dem Trainerwechsel. Einem Mitarbeiter des Bremer Gesundheitsamts fielen Unregelmäßigkeiten beim Impfpass des Trainers auf – Anfang flog, Ole Werner übernahm.
Sportlich bedeutete das, dass Werner nicht zwischen Füllkrug und Ducksch wählte, sondern beide spielen ließ. Der Rest ist bekannt: Im Sommer blieb Füllkrug fit, absolvierte fast die vollständige Vorbereitung. Die Folge: Mit zehn Toren für den Aufsteiger Bremen ist er aktuell der treffsicherste deutsche Angreifer der Bundesliga und schafft es diese Saison ins Notizbuch des Bundestrainers.
In Katar soll „Lücke“ eine besonders klaffende Lücke füllen. Seit dem Karriereende des WM-Rekordtorschützen Miroslav Klose liegt die große deutsche Mittelstürmer-Tradition brach. Der ehemalige Bundestrainer Jogi Löw versuchte es zuletzt mit Improvisation: Bei der WM 2018 in Russland probierte er es mit Timo Werner, bei der EM drei Jahre später mit Serge Gnabry. Die Lücke konnten sie alle nicht füllen.
Nun soll Füllkrug diese große Tradition wiederbeleben – mit der „9“ auf dem Rücken. Mit dieser Nummer spielten einst die Idole Fritz Walter, Uwe Seeler, Klaus Fischer, Horst Hrubesch oder Rudi Völler bei Weltmeisterschaften. Diesmal: Füllkrug? „Das waren alles gute Typen, wirkliche Typen. Ich glaube, dass ich auch ein guter Typ bin“, sagte Füllkrug noch vor der WM. Die Nummer neun aber sei die Idee des DFB gewesen. „Sie haben gefragt, ob ich damit fein bin.“ Seine Antwort? „Ja, klar freue ich mich drüber, das ist auf jeden Fall ’ne coole Sache.“ In der Jugend trug er sie oft, für den TuS Ricklingen schoss er als „Neuner“ mal 162 Tore in einer einzigen Saison.
Bei der WM werden es wohl nicht ganz so viele sein. In seinen drei Einsätzen hat er bisher zwei Tore gemacht. Doch für die Startelf reicht es trotzdem nicht. Füllkrug auf der Neun, das sei „kein Allheilmittel“, sagte Flicks Assistent Marcus Sorg. Man müsse sehen, „welche Wirkung welcher Spieler zu welchem Zeitpunkt hat. Man sollte diese Wirkung nicht verlieren.“ Heißt: Füllkrug bleibt Joker. Als solcher bringt er sich voll ein, auch neben dem Platz. Obwohl neu, sei der Angreifer „relativ laut“, lobte İlkay Gündoğan. Kapitän Manuel Neuer meinte: „Er bringt eine gewisse Frische rein.
Wir haben ihn gebührend gefeiert.“ Füllkrug genoss sichtlich, „dass ich hier Fuß fasse, meinen Stempel hinterlasse und der Mannschaft helfen kann“. Und mittlerweile wissen mehr Leute auf der Welt, wer dieser Niclas Füllkrug ist.