Wie stark ist das DFB-Team nun? Bei der Heim-Europameisterschaft wartet im Viertelfinale der erste richtige Härtetest: die spanische Nationalelf. Die hat nämlich etwas, was die anderen deutschen Gegner bislang nicht hatten.
Zu einer tragischen Erkenntnis ist Toni Kroos schon gekommen. Rennradfahren, Boccaspielen, Briefmarkensammeln, Fernsehexperte sein oder doch Podcaster: Egal, was er irgendwann nach dieser Europameisterschaft machen wird, welches Hobby das Rentnerleben des 34-Jährigen ausfüllen wird, er werde nie wieder etwas so gut können, wie Fußballspielen, sagte er am Donnerstag in der gut gefüllten DFB-Presseturnhalle in Herzogenauracher Quartier.
Seit drei Tagen ist Kroos schon ohne Klub, nach mehr als zehn Jahren ist sein Arbeitspapier bei Real Madrid ausgelaufen. Ein komisches Gefühl sei das, ließ er seine Follower auf Instagram wissen. Am späten Freitagabend könnte alles noch seltsamer werden: Dann endet möglicherweise die aktive Karriere des sechsmaligen Champions-League-Siegers. Im Viertelfinale der Heim-EM trifft das DFB-Team auf Spanien (18.00 Uhr).
Vielleicht ist es schon das vorweggenommene Finale dieses Turniers,. Deutschland gegen Spanien. Es ist das Duell zweier Fußballnationen, das immer besonders war – und das die DFB-Elf bei einer EM zuletzt 1988 gewann. In München war das, mit 2:0. Damals war noch Gute-Laune-Sportdirektor Rudi Völler selbst Nationalspieler. Spanien und die DFB-Elf waren die Teams, die bislang mit euphorisierendem Fußball begeistert haben – anders als andere Viertelfinalteilnehmer. Vor allem Frankreich und England langweilten, die Niederlande hatten erst beim 3:0 gegen Rumänien im Achtelfinale ihren Erweckungsmoment.
All das klingt vielversprechend. Kaum jemand, der in den vergangenen Tagen dazu befragt wurde, ließ diese Beobachtungen aus. Für das DFB-Team wird es dagegen der erste richtige Härtetest bei diesem Turnier. Bislang waren die Nagelsmänner für alle, die sie beobachten, schwer zu fassen. Irgendwie gut, aber irgendwie auch mit Schwächephasen. Nach dem Spanien-Spiel wird das vorbei sein. Danach steht fest, was dieses Team kann, das so erst seit drei Monaten existiert und dem man stets beim Dazulernen zuschauen konnte.
Spanien wird der erste Gegner in diesem Turnier sein, der seine Grundeinstellung nicht für das DFB-Team anpassen wird. Im Gegenteil: Sie haben den Ballbesitzfußball der Vergangenheit erweitert und sind über die Jahre zielstrebiger geworden. Und anders als bei Schottland, Ungarn, der Schweiz oder Dänemark werkeln bei ihnen zwei ganz gefährliche Außenspieler auf den Flügeln: Die DFB-Elf hat Jamal Musiala und Florian Wirtz, Spanien hat die beiden „Brüder“ Nico Williams und Lamine Yamal. Der eine ist 21 Jahre alt, der andere erst 16.
Die beiden flinken Flügelstürmer rissen schon bei den bisherigen EM-Spielen der Spanier so manches Loch in die gegnerischen Defensivreihen. Spielfreudig, unausrechenbar und vor allem schnell: Besonders die kroatische Defensivreihe hat wohl noch Albträume vom wendigen Yamal. Ihr Auftritt lässt sich auch statistisch festhalten: Williams, der bei Athletic Bilbao spielt, steht derzeit bei einem Tor und einer Vorlage in drei Einsätzen. Yamal, vom FC Barcelona, hat in vier Spielen schon zwei Vorlagen gegeben. Ihr Spielwitz, ihr Tempo, ihr Dribbling: All das könnte auch die Abwehrreihe des DFB-Teams vor Probleme stellen – vor allem die Außen.
Auf dieses Duell wird es wohl auch ankommen. Damit fallen zwei Postionen die Schlüsselrollen zu, die vor den März-Länderspielen noch ein riesiges Problem gewesen waren: die Außenverteidiger. Die spanischen Super-Bros treffen aller Voraussicht nach auf Joshua Kimmich und David Raum. Letzterer war für den gegen die Schweiz unglücklichen Maximilian Mittelstädt in die erste Elf gerückt. Kimmich dagegen hat sich schon länger festgespielt. Nur hat der Bayern-Star ein Problem: Er ist nicht der schnellste. In der Vergangenheit hatte er wegen seines Tempodefizits immer mal wieder Probleme gegen flinke Dribbelkünstler – etwa Vinicius Jr. von Real Madrid. Er kann es aber auch gut kaschieren: Bei den März-Länderspielen steckte er kurzum Frankreichs Kylian Mbappé in die Tasche.
Vielleicht gehört es zu der neuen Kommunikation des DFB-Teams, aber die Nationalelf geht öffentlich mit überraschend wenig Ehrfurcht ins Duell. Klar, es gibt viel Lob vorab. Kroos erklärt vor den anwesenden spanischen Journalisten am Donnerstag: Die beiden Superdribbler können zu „Gamechangern“ werden. Und Yamal sei ohne Übertreibung einer der gefährlichsten Spieler des FC Barcelona gewesen. Es sei beeindruckend, mit welcher Konstanz der 16-Jährige unterwegs sei, sagt der Altmeister von Real Madrid.
Leroy Sané geriet am selben Ort am Tag zuvor ebenso ins Schwärmen. Die beiden Spanier „sind zwei sehr starke Spieler, dribbelstark. In dem Alter wie Yamal so Fußball spielen zu können, ist sehr beeindruckend“, sagte er. „Es macht Spaß, ihm zuzuschauen, weil ich dieselbe Position spiele, ich freue mich auf das Duell.“ Auch eine Hälfte des DFB-Außenverteidigerduos räumte ein, dass es doch nicht so einfach werde. Sie werden „vor eine große Aufgabe gestellt“, bekannte Raum noch am Dienstag.
Es folgt jedoch das große Aber: Das DFB-Team hat offenbar einen Plan ausgeheckt. Man müsse „die Mitte zumachen“, erklärte Kimmich. Zuletzt zogen Yamal und Williams nämlich immer wieder mit ihrem starken Fuß nach innen. Die große Aufgabe solle im Verbund gelöst werden, sagt Kroos. „Wir wollen auch ein anderer Gegner als die bisherigen für Spanien sein“, erklärt er. „Und versuchen, sie an der kurzen Leine zu halten.“ Ohnehin, der DFB-Regisseur sieht das Ganze entscheidend anders: Das Viertelfinale werde in der Zentrale entschieden, nicht die Flügel. Es komme darauf an, wer dort die Duelle gewinne, wer das Mittelfeld kontrolliert.
Und da spielt eben Kroos. Da lenkt er das Spiel der DFB-Elf. An seiner Seite werden der „Worker“ Robert Andrich und Kapitän İlkay Gündoğan mit ins Duell gehen. Beide Teams werden viel Ballbesitz haben wollen, sagt Kroos. Entscheidend seien die Phasen, in denen der Gegner das Spielgerät hat, auf diese Situationen werde es ankommen.
Jedoch ist es nicht so, als wären das spanische Mittelfeld schlecht besetzt – im Gegenteil. Man-City-Star Rodri ist das Kroos-Pendant. Sein Trainer Luis de la Fuente bezeichnete ihn nach dem 4:1-Erfolg im Achtelfinale gegen Georgien als „perfekten Computer“, der alles verwalte, sogar die Emotionen. Daneben spielen die beiden Künstler Pedri und Fabian Ruiz, die mit dem Ball auch umgehen können.
Am Ende kommt es auf die besonderen Momente an, das können beide Teams leisten. „Der Glaube unserer Mannschaft ist extrem gewachsen in den vergangenen Monaten“, sagt Kroos, der sich mit einem Karriereende am Freitagabend weder abfinden will noch daran glaubt. „Ich gehe nicht davon aus, dass es mein letztes Spiel ist“, sagt er. Was ihn zuversichtlich macht? Die Nagelsmänner haben in den vergangenen Spielen so manche schwierige Situation gemeistert: Rückstände, Zentimeterglück, Geduldsproben. Immer wieder sind sie gestärkt daraus hervorgegangen.
Und wer weiß, vielleicht wird aus der größten Sorge des DFB-Teams, die spanischen Super-Bros, auch die große Chance. Das deutete Kapitän Gündoğan in der ARD über den jungen Yamal an. Der sei in der Offensive zwar schnell. Aber: „Gerade seine Aktivität im Verteidigen ist nicht die größte, da muss er noch viel lernen. Da gibt es für uns vielleicht Möglichkeiten, Räume zu bespielen, die er nicht so gut abdeckt“, sagte er. Wenn das klappt, müsste Toni Kroos sich nicht ab Samstagfrüh nach Rennrädern oder Briefmarken umschauen, sondern sich auf das Halbfinale vorbereiten.