Sonntag, 24.November 2024 | 20:33

Eine Art Exit-Strategie: Besinnliche Weihnachtslieder erleben Revival

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Haben „Stille Nacht“ und „O du fröhliche“ eine Zukunft? Oder verlieren christliche Advents- und Weihnachtslieder in Deutschland an Bedeutung, wenn immer mehr Menschen aus der Kirche austreten oder nie zu ihr gehörten? Aus Kulturwissenschaft und Theologie kommen überraschende Antworten. Danach erleben besinnliche Weihnachtslieder gerade ein Revival. Mögliche Gründe: Kriege, Krisen und eine Sehnsuchtslücke in Sachen Spiritualität und Sentimentalität.

„Wir haben schon vor 20 Jahren Umfragen auf Weihnachtsmärkten gemacht, direkt neben der Kirche“, sagt Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler an der Universität Regensburg. „Doch wenn wir die Frage stellten, welche Rolle die Geburt Christi im eigenen Leben spielt – da haben die Leute gedacht, das sei eine Scherzfrage.“ Als Forscher beobachtet Hirschfelder heute eine fast schon paradoxe Situation: Auf der einen Seite ein permanentes Herauslösen christlicher Sinngehalte, Bekenntnisse und Symbole aus dem Alltag, manchmal gepaart mit fast schon fanatischem Kirchenhass. Und auf der anderen Seite eine tiefe Sehnsucht nach Spirituellem. In dieser Gemengelage sieht er Weihnachtslieder als eine Art Exit-Strategie.

„Im Alltag trauen wir uns kaum, sentimental zu sein. Das Sprechen über Glaube und Gott ist im Mainstream ziemlich out. Das würden wir auch nicht posten“, sagt Hirschfelder. Doch Weihnachtslieder? Kein Problem. Sie sind nicht nur auf Weihnachtsmärkten zu hören. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2021 singt sie jeder Vierte zu Hause. Voll im Trend liegt auch das gemeinsame weihnachtliche Singen im Fußballstadion oder vor Rathäusern. „Hier dürfen wir rausschmettern, wonach wir uns sehnen“, sagt Hirschfelder. „Diese Revival-Schiene ist erstaunlich offen gegenüber christlichem Liedgut. Das ist kein reines Tannenbaum-Gedöns. Das hat auch was Spirituelles.“

Über den Ursprung von Weihnachtsliedern und ihren Bedeutungswandel kann der katholische Theologe und Liturgiewissenschaftler Ansgar Franz an der Universität Mainz berichten. Dort gibt es das Gesangbucharchiv als Quelle für Kultur-, Frömmigkeits- und Mentalitätsgeschichte. Schon in der Spätantike gab es Kirchen- und Weihnachtslieder, erläutert Franz. Sie seien hierzulande auf Deutsch gesungen worden. „Man geht davon aus, dass der Abstand zwischen der Liturgiesprache Latein und der Volkssprache so groß war, dass man eine Brücke brauchte.“ Das war anders als in Italien, Frankreich oder Spanien, Ländern mit romanischen Sprachen, näher am Latein.

Die Freude an deutschsprachigen Liedern im Gottesdienst greift Martin Luther in der Reformation auf. Er schreibt mit „Vom Himmel hoch“ ein Weihnachtslied, das auf einer bekannten Volksmelodie fußt. „Die Reformation hat sich ihren Sieg ersungen“, resümiert Franz. „Die katholische Kirche war völlig überrascht, welchen Erfolg diese Bewegung auch durch ihre Lieder hatte.“ Der Siegeszug mündete dank des gerade erfundenen Buchdrucks in den ersten Gesangbüchern, die in protestantischen Haushalten eine Alphabetisierungswelle anstießen, ergänzt er. Denn es gehörte zum guten Ton, sie auch lesen zu können.

Die katholische Kirche zog mit eigenen Liedern und Gesangbüchern nach. Doch das Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts schrieb die lateinische Messe vor. Deutsche Kirchenlieder seien deshalb lange in die Bereiche Andacht oder Wallfahrt zurückgedrängt worden, berichtet der Theologe. Dadurch sei auch Lesen auf Deutsch bis zur katholischen Aufklärung weniger verbreitet gewesen – ein Bildungsdefizit gegenüber den Protestanten.

Das heute tradierte deutsche Weihnachtsgefühl samt Tannenbaum, Liederkanon und Geschenken ist im Vergleich dazu sehr jung. Die Historikerin und Musikwissenschaftlerin Juliane Brauer beschreibt es in einem Aufsatz als idealtypisch für das deutsche Kaiserreich ab 1871. Lieder wie „Stille Nacht“ und „O du fröhliche“ stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die ursprünglich rein kirchliche Feier ins bürgerlich-biedermeierliche Wohnzimmer verlängerte und das Kind ins Zentrum des familiären Glücks rückte. Die Weihnachtslieder jener Zeit waren zumeist freudig oder süßlich.

Erstmals Nachhilfe im katholischen Gesangbuch
Damit bekommt die biblische Weihnachtsgeschichte, die von den frühen Christen noch als bittere Armutserfahrung und Erniedrigung verstanden wurde, endgültig einen zuckersüßen Überzug. Historikerin Brauer nennt das ein konserviertes deutsches Weihnachtsgefühl. Es lasse sich oft wie auf Knopfdruck durch das Singen oder Hören von Weihnachtsliedern mit Emotionen verbinden und abrufen.

Doch wird der christliche Kontext noch verstanden? „Für mich war es sehr verwunderlich, dass die Pegida-Bewegung Weihnachtslieder gesungen hat“, sagt Forscher Franz. „Denn darin wird die Geschichte des Ehepaars Josef und Maria auf der Flucht erzählt. Und das singt dann eine Bewegung, die sich gegen Migration wendet?“. Für den Theologen, Jahrgang 1959, ist aber auch in der Kirche viel verloren gegangen. Seit 2013 gebe es im katholischen Gesangbuch erstmals Hilfestellung: Was mache ich im Advent und an Heiligabend? „Diesen Traditionsabbruch hätte ich mir in meiner Lebenszeit nicht vorstellen können. Das hat sich durch den Vertrauensverlust in die Kirchen noch einmal enorm beschleunigt.“

Möglich, dass die Macht der Melodie heute stärker wirkt als der Text. „Das sind Akkorde und Refrains mit positiver Wirkung. Was Abba und die Beatles konnten, kann ein gutes Weihnachtslied auch“, sagt Wissenschaftler Hirschfelder. Seit langem sind christliche Lieder Teil der deutschen Popkultur, gesungen von Nena, Frank Schöbel oder Helene Fischer. Sie sind auch ein deutsches Exportgut. „Stille Nacht“ existiert heute in rund 300 Sprachen und Dialekten.

Für Forscher Hirschfelder ist die Talsohle der Ent-Sakralisierung aber durchschritten. „Je mehr Lebenswelten, in denen wir groß geworden sind, verloren gehen, desto mehr Traditionsanker werfen wir aus“, sagt er. Und Weihnachtslieder seien ein Stein, „an dem ein solcher Anker hängenbleiben kann“.

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