Donnerstag, 19.September 2024 | 18:53

Der Traum vom “kitschigen” Ende: DFB-Elf begibt sich in Kroos’ königliche Hände

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Die Ankunft des Königlichen zeichnet sich im DFB-Medienzentrum schon früh ab. Die Reihen in der riesigen Turnhalle sind deutlich dichter besetzt als sonst, zwischen den Stühlen wird diesmal auch auf Englisch getuschelt. Sie alle warten auf Toni Kroos. Auf den großen Leinwänden laufen Szenen aus dem Kinofilm über den deutschen Ausnahmefußballer: Pep Guardiola lobt, Luka Modrić schwärmt. Und, klar, der Protagonist kommt dann auch noch fast eine Stunde zu seiner eigenen Audienz zu spät.

Die letzten Meter seiner beeindruckenden Karriere genießt Kroos sichtlich, das strahlt er aus. Die Heim-Europameisterschaft ist für ihn das letzte Kapitel seiner aktiven Fußballerzeit. Er ist entspannt, nimmt sich Zeit für Fragen, antwortet ausführlich, schiebt kleine Witze ein. Endlich bekommt Kroos die Anerkennung, die ihm in Deutschland lange verwehrt blieb und die er nach zehn Jahren bei Real Madrid immer hatte. Er muss niemandem mehr etwas beweisen, er weiß das. Englische Journalisten fragen ihn nach Jude Bellingham, ganz nebenbei erwähnt er, dass er sich für die Schottland-Partie Rat bei seinen Real-Kollegen geholt hat.

Hinzu kommt: Kroos reist mit dem Champions-League-Titel im Gepäck an, vor anderthalb Wochen besiegte Real Madrid den BVB im Finale von Wembley mit 2:0. “Das ist toll und schade zugleich”, sagt er. Den fünften Triumph mit den Königlichen habe er vielleicht einen Tag genießen können, danach musste er schon zu den EM-Generalproben gegen die Ukraine und Griechenland. Ab jetzt habe er nur noch Schottland im Kopf, erklärt Kroos, dessen Haupt von der Trainingseinheit noch ganz leicht rot gefärbt ist. Deutschland bestreitet gegen die Schotten das Eröffnungsspiel am Freitag (21 Uhr/ZDF, Magenta und im ntv.de-Liveticker).

Die Rückkehr von Toni Kroos markierte einen Neuanfang für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Bundestrainer Julian Nagelsmann holte den 34-Jährigen für die Heim-EM zurück, um der Nationalelf wieder eine richtige Hierarchie zu geben. Nach den vielen gescheiterten Experimenten seines Vorgängers Hansi Flick sollte die Mannschaft nun wieder einen Fixpunkt bekommen, um nach dem WM-Debakel in Katar 2022 zum Erfolg zurückzukehren.

Toni Kroos ist dafür der richtige Mann: Keinen aktuellen deutschen Fußballer umgibt eine solche Aura. Kapitän İlkay Gündoğan spielt zwar auf ähnlich hohem Niveau, hat aber weniger Titel gesammelt und in der Nationalelf nie die richtige Rolle gefunden. Thomas Müller ist zwar ein Urgestein, aber eben nur in der Bundesliga und mittlerweile vor allem in der Jokerrolle. Manuel Neuer ist zwar mehrfacher Welttorhüter, schwächelte aber zuletzt. Kroos ist dagegen auf dem Höhepunkt seines Schaffens: im Real-Mittelfeld seit zehn Jahren unangefochten, mit den Titeln in der spanischen Liga und der Königsklasse.

Und er ist jemand, der mittlerweile über den Dingen steht: Wenn Kroos über die deutsche Mannschaft spricht, klingt das nach jemandem, der genau weiß, was möglich ist – und was nicht. Er spricht von Schwächephasen, wie die erste Hälfte gegen Griechenland. Von Konterabsicherung, die noch besser sein könnte. Er sieht Steigerungspotenzial und dass das Team noch konstanter werden muss. “Ein Turnier ist die beste Möglichkeit, das zu zeigen”, erklärt er. Schon nach dem 2:1-Erfolg gegen Griechenland und einer grausigen ersten Hälfte, sagte er, dass man gewusst habe, “dass wir vielleicht nicht so gut sind, wie wir im März gemacht wurden”.

Derzeit stehen hinter der Nationalelf von Bundestrainer Nagelsmann noch viele Fragezeichen. Niemand weiß so recht, wie gut das Team eigentlich ist. Zwar haben die Länderspiele gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1) gezeigt, dass die DFB-Elf auch berauschenden Fußball spielen kann. Die EM-Generalproben gegen die Ukraine (0:0) und Griechenland (2:1) haben diesen Eindruck jedoch wieder korrigiert. Es bleibt die Erkenntnis, dass die Nationalelf stabiler geworden ist: Sie gewinnt Spiele, in denen sie schlecht spielt. Das war in den vergangenen Jahren nicht immer so.

Möglich, dass das auch an Kroos liegt, seit seiner Rückkehr ist die Nationalelf in vier Spielen ungeschlagen. Überhaupt ist es für alle Beteiligten ein gutes Zeichen, dass er wieder im DFB-Dress aufläuft. “Natürlich bin ich hungrig, das ging einher mit der Entscheidung, zurückzukommen”, sagt Kroos. Das Ziel ist der Titel. “Wenn ich diese Idee nicht hätte, dass das möglich ist, dann hätte ich das nicht gemacht.” Er nennt es selbst fast zu “kitischig” – erst CL-Triumph, dann EM-Titel. “Aber ich würde es trotzdem nehmen.” Kroos weiß, dass er – zusammen mit Kapitän Gündoğan – dafür entscheidend ist. Dabei beansprucht er gar keine Führungsrolle, die braucht es aus seiner Sicht gar nicht. “Ich merke bei allen eine Riesenlust, eine Riesenbereitschaft im Training”, sagt Kroos. Er müsse da gar nicht nachhelfen.

Seine Rolle ist eine andere: Er soll dafür sorgen, dass jeder seine beste Leistung abrufen kann. Von den 27 Spielern, die im EM-Kader des DFB-Teams stehen, haben 12 bislang noch kein Turnier gespielt. Wenn in München rund um das Eröffnungsspiel bis zu Hunderttausend Schotten erwartet werden oder mal was im Spiel schiefgeht: Dann kann es schnell mal zu Nervosität oder Lampenfieber kommen. In jedem Turnier wird es schwierige Momente geben, sagt Kroos, auch bei dieser Heim-EM. “Wichtig ist, dass jeder das Gefühl hat, speziell auf dem Platz, dass das jetzt hier alles gar nicht so dramatisch ist.”

Wie er das machen will, beschreibt er fast rührend. Es brauche jemanden, der ausstrahlt: “Pass auf, wenn es ein Problem gibt, dann bin ich da” oder “Wenn es Zweifel mit dem Ball gibt: Dann gib ihn mir, es ist alles gut.” Eben ein Toni Kroos. Jemand, der die Fußballwelt gesehen, der alle Situationen schon erlebt hat, der den Medienrummel auch abfängt. “Wenn wir nachher drei Spieler auf dem Platz haben von elf, die sich nicht wohlfühlen, die Zweifel haben, das ganze Spiel über, dann wird es nicht funktionieren”, sagt er. Es passt zu seiner Position: Kroos bleibt hinten und kontrolliert das Aufbauspiel, vorn sollen dann doch die jungen Wilden zaubern. Aber: Wenn es Probleme gibt, ist Kroos da.

Es ist wie der erfahrene Kollege auf der Arbeit, der als Sicherheitsnetz dient oder der Papa, der seine Kinder mal machen lässt. Und da passt es, dass Kroos auch nach seinem Nachwuchs gefragt wurde – und für Gelächter sorgt. Die Kinder werden gegen Schottland auch im Stadion sein. “Die erwarten aber auch einen Sieg”, sagt Kroos, “die sind leider etwas erfolgsverwöhnt.” Denn: “Das heißt, sie haben in den vergangenen Jahren nicht viel von der Nationalmannschaft mitbekommen.” Der von Real Madrid erfolgsverwöhnte Nachwuchs gehe klar davon aus, dass Papa mit dem EM-Pokal nach Hause kommt. “Alles andere wird schwer akzeptiert”, sagt Kroos und lacht selbst.

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