Bei seiner triumphalen Rückkehr in ein frisch entflammtes Fußball-Land schwebte Julian Nagelsmann buchstäblich über den Wolken.
Endlich EM-Euphorie! Im Flieger von Lyon nach Frankfurt sah der Bundestrainer nach der grandiosen Gala-Nacht beim Vize-Weltmeister all seine Pläne in Perfektion aufgegangen. Seine wichtigste Botschaft hatte er mit dem unbändigen Selbstbewusstsein eines Drachentöters schon gesendet: So, lieber DFB, ich wäre dann bereit für ein Vertragsangebot!
Das hat Präsident Bernd Neuendorf dem Hoffnungsträger einer so lange darbenden Fußball-Nation trotz aller Liebesschwüre noch nicht unterbreitet. Es wäre aber, sagte Nagelsmann nach dem fulminanten 2:0 (1:0) gegen Frankreich, „der erste Schritt“ auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft über die Heim-EM hinaus – wenn auch „keine Garantie“ dafür, dass er wirklich bliebe. Das ließ sich durchaus so interpretieren, dass Nagelsmann auch hier das Tempo erhöht.
Schlagende Argumente lieferte dieser traumhafte Frühlingsabend zuhauf. Das Sensationscomeback des magischen Maestro Toni Kroos als Captain Cool, das am Reißbrett genialisch entworfene Blitztor mit Knalleffekt von Zauberer Florian Wirtz, dazu jede Menge Spiel- und „Lebensfreude“ (Nagelsmann), wo im grauen November noch Verunsicherung und Tristesse herrschten. All das garniert mit elektrisierender Aufbruchsstimmung für die entwöhnte Fanseele.
„Das war mit das Beste, was wir in den letzten Jahren gespielt haben“, schwärmte Sportdirektor Rudi Völler, „es hat unglaublich Spaß gemacht.“ Nagelsmann meinte schockverliebt: „Kompliment an die Mannschaft, es war schön anzuschauen.“ Sogar der große Didier Deschamps, Weltmeister-Trainer von 2018, verneigte sich vor dem nach bleiernen Jahren plötzlich wachgeküssten Giganten: „Ein Bravo für die deutsche Mannschaft!“
Das Feuerwerk mit Nebel in französischen Nationalfarben war kaum verraucht, da zündeten die Pläne schon raketengleich: Pass Kroos, Schuss Wirtz – nach acht Sekunden war das schnellste Tor der deutschen Länderspielgeschichte perfekt. „Großes Kompliment“ an Standardtrainer Mads Buttgereit, sagte Nagelsmann über den Ideengeber, „das ist nicht alltäglich.“ Wirtz habe es „sensationell gut“ umgesetzt, der Schütze fand sein erstes Länderspieltor „überragend“.
Wie das gesamte deutsche Spiel beim erst dritten Sieg in Frankreich, bei dem der Ballmagnet Kroos herausragte. Der Mann, der laut Völler „seit seinem 18. Lebensjahr Eiswürfel pinkelt“, spielte genau so: mit gefühltem Ruhepuls 10, wie ein buddhistischer Mönch mit der Spiritualität des Zen. „Toni Kroos war unfassbar!“, schwärmte Nagelsmann. „Die Zeit reicht nicht für das ganze Lob“, meinte Jamal Musiala.
Der Bayern-Youngster, Wirtz und der Neuner Kai Havertz, der nach entzückendem Zusammenspiel des dreiblättrigen Kleeblatts das 0:2 erzielte, gaben ein magisches Offensiv-Dreieck. Mit Robert Andrich scheint der gesuchte „Worker“ neben Kroos gefunden, auch das Abwehrzentrum mit Antonio Rüdiger und Jonathan Tah findet immer besser zusammen. Die Versetzung von Joshua Kimmich nach rechts erwies sich als richtig, links zeigte sich Debütant Maximilian Mittelstädt als gute Turnier-Alternative.
Kurz: Drei Monate vor dem Eröffnungsspiel gegen Schottland hat Nagelsmann seine EM-Elf gefunden, sie bestand den härtestmöglichen Test beim bislang größten Favoriten mit Bravour. Sollte sich niemand verletzen, würde einzig der diesmal fehlende Manuel Neuer in dieses mitreißende Team rücken. Das deutete Nagelsmann an, als er von der klaren Rollenverteilung sprach. Selbst für einst gesetzte Stars wie Leroy Sané oder Serge Gnabry scheint kein Platz, ein echter Flügelstürmer ist in der Dreizack-Taktik nicht mehr vorgesehen.
„Es entsteht was Großes“, meinte Mittelstädt. Niclas Füllkrug, obwohl Opfer der Umbauarbeiten, lobte die „gesunde Hierarchie“ in der Mannschaft, die Kapitän İlkay Gündoğan in offensiverer Rolle effektiver führt. Einen weiteren großen Unterschied zu den jämmerlichen Auftritten der vergangenen Jahre machte Havertz aus: „Keiner hat sich versteckt, jeder hat sich getraut, an den Ball zu kommen.“ Da ist er, der von Nagelsmann eingeforderte Mut.
Den gilt es, im Klassiker gegen die Niederlande am Dienstag (20.45 Uhr) in Frankfurt erneut zu zeigen. „Wir haben mal den Blinker gesetzt Richtung Heim-EM“, sagte Nagelsmann, „es wäre gut, wenn wir weiter Gas geben.“ Und die Vertragsgeschichte? „Es ist nicht so, dass morgen um 21.30 Uhr ein Angebot da sein muss, sonst gehe ich von dannen“, sagte er. Wer ihm zuhörte, als er von seiner Seelenverwandtschaft mit Völler schwärmte, darf annehmen: Dieses Duo, diese Elf hat alles für eine große Zukunft – über den Wolken.