Um mehrere Hundert Euro verteuerte sich für viele Menschen in Deutschland zum Jahreswechsel die Krankenversicherung. Künftig dürfte die Beitragsspirale die Belastungen für Krankenkasse, Rente und Pflege in immer größere Höhen schrauben. Was steckt hinter der Entwicklung? Und wie bewerten Ökonomen den Umgang der sich anbahnenden schwarz-roten Koalition damit?
Wie entwickeln sich die Krankenkassenbeiträge?
Schon zum Jahreswechsel kam es zu einer Erhöhung der Zusatzbeiträge auf breiter Front. Zum allgemeinen 14,6-Prozent-Beitragssatz kamen Anfang des Jahres Zusatzbeiträge von im Schnitt 2,9 Prozent. Die Regierung hatte den amtlichen Orientierungswert dafür auf 2,5 Prozent festgelegt – das waren bereits 0,8 Prozentpunkte mehr als 2024. Für die kommenden zwei Jahre rechne er mit jeweils rund 0,2 Beitragssatzpunkten mehr, sagt der für seine Gesundheitsberechnungen bekannte Essener Ökonom Jürgen Wasem.
Wie ist die Lage in den anderen Versicherungszweigen?
Der Pflegebeitrag war zum Jahreswechsel um 0,2 Punkte auf 3,6 Prozent für Versicherte mit einem Kind gestiegen – und dürfte nach Erwartung Wasems weiter nach oben gehen. Zu den Gründen zählen neben der Demografie insbesondere auch Lohnsteigerungen bei den Pflegekräften.
2,6 Prozent sind es für die Arbeitslosenversicherung – trotz Kostendrucks auch hier soll der Satz vorerst stabil bleiben. Über den Rentenbeitragssatz wird heftig diskutiert: Wie lange bleibt er noch bei 18,6 Prozent des Bruttogehalts?
Die Ampel hatte schon eine Rentenreform vor und taxierte den Beitrag für 2035 dabei auf 22,3 Prozent. Wie bei der gescheiterten Reform der Ampel-Regierung sieht auch der Koalitionsvertragsentwurf von CDU/CSU und SPD vorerst ein stabiles Rentenniveau von 48 Prozent vor. Das kostet Milliarden. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnt bereits: „Wenn der Beitragssatz wegen eines stabilen Rentenniveaus deutlich ansteigt, dann nimmt die Wirtschaft in Deutschland Schaden.“
Was geschieht ohne Reformen mit den Beiträgen?
„In den nächsten zehn Jahren schlägt der demografische Wandel voll auf die Sozialversicherungsausgaben durch“, sagt der Mannheimer Ökonom Nicolas Ziebarth. Die sogenannten Babyboomer verabschieden sich aus dem Arbeitsmarkt. Dabei habe die Politik über Jahre ignoriert, dass auch in der Krankenversicherung die Demografie-Effekte ähnlich wie in der Rente enorm sind, kritisiert Gesundheitsökonom Wasem. „Ältere Menschen brauchen im Schnitt drei bis vier Mal so viele Leistungen wie jüngere.“
Das privatwirtschaftliche Forschungsinstitut IGES hat errechnet, welcher Anteil vom Einkommen in den kommenden Jahren für die Sozialsysteme fällig wird. „Wenn man grundlegende Trends (…) fortschreibt, ergibt sich in zehn Jahren eine Gesamtbelastung durch Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von knapp 49 Prozent“, sagt IGES-Geschäftsführer Martin Albrecht, „mit einem Spektrum zwischen knapp 46 bei günstiger und 53 Prozent bei ungünstiger Entwicklung“. Heute sind es rund 42 Prozent.
Warum wiegen hohe Sozialkosten heute besonders schwer?
Sie können weniger als früher durch Wirtschaftswachstum kompensiert werden. DIW-Präsident Fratzscher erwartet, dass Deutschland auch wegen des Zollkonflikts mit den USA das dritte Jahr hintereinander eine Rezession erlebt. Doch selbst wenn alles aktuell bestens laufen sollte, sieht Fratzscher für die kommenden Jahre nur ein potenzielles Wachstum von 0,3 Prozent. „Ein größeres Wachstumspotenzial hat die deutsche Wirtschaft derzeit nicht mehr.“
Wasem erläutert: „Das Stück, das für die Kranken- und Pflegeversicherung aus dem Wohlstandskuchen herausgeschnitten wird, wird also immer größer – nur der Kuchen wächst nicht mehr.“ Das Wohlstandswachstum in Deutschland ist also begrenzt. Das Älterwerden der Gesellschaft ist auch hierfür ein Grund, nicht nur für die steigenden Sozialkosten. Denn es gibt zugleich weniger Jüngere, und somit stehe ein „starker Rückgang der Beschäftigung in Deutschland“ bevor, so Fratzscher. Künftig brauchen mehr Menschen Leistungen – doch weniger erwirtschaften Wachstum.
Wie reagiert die Koalition auf die zugespitzte Lage?
Aus Sicht der Ökonomen enttäuschend. Etwa bei Pflege und Gesundheit sollen erst einmal Kommissionen eingesetzt werden. Von diesen erwarte er nicht viel, sagt Ziebarth vom Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). „Die ideologischen Unterschiede (…) sind zu groß.“ Die Union wolle im Grundsatz mehr Eigenbeteiligung, also dass Versicherte mehr selbst beitragen. Die SPD wolle hingegen, dass Wohlhabende mehr einzahlen.
Fratzscher sagt: „Unser Sozialstaat wird derzeit von Jahr zu Jahr ein Stück weniger generationengerecht.“ Immer stärker werde von Jung zu Alt umverteilt. „Der Koalitionsvertrag verschärft das Problem: Anstelle von Vorschlägen zu einer Begrenzung des künftigen Beitragsanstiegs gibt es hier teure Versprechungen wie beispielsweise ein stabiles Rentenniveau und eine ausgeweitete Mütterrente“, sagt Fratzscher. „Offensichtlich wollen weder Union noch SPD ihre Wählerinnen und Wählern mit irgendwelchen Zumutungen belästigen.“
Was sind die Folgen hoher Beiträge?
„Hohe Sozialabgaben hemmen den privaten Konsum, der mehr als die Hälfte zur Wirtschaftsleistung beiträgt“, sagt Fratzscher. „Wenn die Menschen in Deutschland nicht wieder mehr ausgeben, wird nachhaltige konjunkturelle Erholung kaum gelingen.“
Ziebarth meint: „Die steigenden Sozialbeiträge sind heute eine der drängendsten Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft.“
Und wie sehr hemmen hohe Beiträge die Unternehmen konkret? Ziebarth sagt: „Studien legen nahe, dass pro Sozialbeitragssatzpunkt mit 50.000 bis 100.000 Arbeitsplätzen weniger pro Jahr zu rechnen ist.“ Das sei aber nur ein Annäherungswert.