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Etwas ratlos, noch mehr kopflos – Grüne starten in Dürrejahre

Bevor die Grünen den Weg freimachen für die Kanzlerschaft von CDU-Chef Friedrich Merz liest ihm Fraktionchefin Britta Haßelmann noch einmal die Leviten. „Herr Merz, ich muss Ihnen widersprechen“, sagt Haßelmann in der zweiten Sondersitzung des alten Bundestags.

„Die Bedingungen sind keine anderen als sie am 1. Januar waren oder als sie im Oktober im letzten Jahr waren“, hält Haßelmann fest. Der Investitionsbedarf im Land, die Geldnot für die Unterstützung der Ukraine und eine von den USA unabhängigere Verteidigungsfähigkeit seien schon lange offenkundig. Die Grundgesetzänderungen, denen Haßelmanns Fraktion nun zur Zweidrittelmehrheit verhilft, um die Schuldenbremse weitgehend außer Kraft zu setzen: Sie hätten aus Sicht der Grünen spätestens nach dem Ampel-Aus vereinbart werden müssen und nicht in diesem zweifelhaften Hauruckverfahren mit schon abgewählten Mehrheiten.

Dass der kommende Bundeskanzler den Forderungen ihrer Partei nun doch nachkommt, ist für die Grünen ein bittersüßer Erfolg. Im Bundestagswahlkampf war ihr Kanzlerkandidat Robert Habeck für seine Schuldenpläne noch von der Union verlacht – und mit einem enttäuschenden Wahlergebnis bedacht worden. Seit dem 23. Februar aber haben die Grünen eine regelrechte Kraftkur durchlaufen: Der nächsten Regierung aus Union und SPD haben sie eine finanzielle Arbeitsgrundlage verschafft und damit eine potenzielle Staatskrise abgewendet. Sie haben konkrete Ziele und verbindliche Etats für den Klimaschutz im Rahmen der Grundgesetzänderung rausverhandelt. Sie haben nachträglich Recht bekommen für ihre Wahlkampfpositionen. Und nun?

Das Rampenlicht, das sich bis Dienstag auf die Grünen gerichtet hat, wird weiterwandern – zur kommenden schwarz-roten Bundesregierung, zur AfD als größter Oppositionspartei. Den Rest an medialer Aufmerksamkeit wird man sich mit der kaum kleineren Linksfraktion teilen müssen. Keine schönen Aussichten für die Grünen und auch eine durchaus gefährliche Lage. Die Partei muss schnell für sich klären, mit welchen Inhalten und welchen Tonlagen sie zurück zu alter Stärke finden will. Nicht zuletzt: mit welchem Spitzenpersonal?

Dröge und Haßelmann fest im Sattel

Der nach außen maßgeblich von den Fraktionschefinnen Haßelmann und Katharina Dröge verantwortete Erfolg im Ringen mit Unionsfraktionschef Merz, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und SPD-Chef Lars Klingbeil hat beiden ganz neues Ansehen verliehen – nach außen wie innen. Die Frage um die Fraktionsspitze sei damit jedenfalls geklärt, heißt es nicht nur aus Spitzenkreisen der Grünen. Auch weite Teile der Fraktion zeigen sich zufrieden, einschließlich der potenziell aufrührerischen linken Jugend.

Katharina Dröge hat sich mit ihrer rhetorisch einwandfreien Rede in der ersten von zwei Bundestagssondersitzungen als neue Führungsfigur der Grünen beworben. Da geht noch was, heißt es über sie von vielen aus der Partei. Und Britta Haßelmann habe sich an Dröges Seite auch mit vorbildhaftem Teamspiel das Vertrauen der Fraktion erarbeitet. Dass beide in letzter Minute das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 in die Grundgesetzänderung hineinverhandelt haben, macht die Grünen besonders stolz.

Dröge und Haßelmann sind nur vorübergehend im Amt, müssen sich nach der Konstituierung des neuen Bundestags zur Wiederwahl als Fraktionsvorsitzende stellen. Gegenkandidaten zeichnen sich nicht ab, erst recht nicht nach diesen Erfolgen. Da scheint es verkraftbar, dass längst nicht alle in der Fraktion glücklich sind mit dem Duo. Beide haben ihre Abgeordneten während der Ampel-Jahre auf eine gewisse Disziplin verpflichtet. Interne Konflikte drangen kaum nach außen, trotz teils schwerverdaulichen Zugeständnissen an die Ampelpartner. In der damaligen Regierungsrolle, als in der Koalition auch ohne Hinterbänkler-Stimmen ständig öffentlich gestritten wurde, war das plausibel. In den anstehenden Oppositionsjahren wollen aber auch diejenigen sich profilieren, die bisher keine Gelegenheit dazu hatten. In der Opposition ist schließlich vor der Regierung, wenn es gut läuft zumindest.

Wer darf ins Bundestagspräsidium?

Hinzukommt bei der Frage nach der personellen Aufstellung der ewige Proporz. Die Postenverteilung nach Bundesländern und internen Strömungen ist in jeder Partei wichtig, ist bei den für gesellschaftliche Vielfalt stehenden Grünen aber besonders aufgeladen. Dröge und Haßelmann kommen wie der im November neu ins Amt gewählte Parteichef Felix Banaszak aus Nordrhein-Westfalen. Dabei hat der Landesverband, der im bevölkerungsreichsten Bundesland zusammen mit der CDU regiert, parteiintern ohnehin schon hohes Gewicht.

Angehörige von Minderheiten – Menschen mit Migrationshintergrund oder Ostdeutsche – sucht man an der Grünen-Spitze bis auf Weiteres vergeblich. Denn trotz des schwachen Bundestagswahlergebnisses sitzen auch Banaszak und die Co-Parteivorsitzende Franziska Brantner fest im Sattel. Nach gerade einmal vier Monaten im Amt sind beide noch auf Bewährung, heißt es. Eine Revolte ist nicht zu erkennen.

Zugleich zeichnet sich eine Machtverschiebung ab hin zur Bundestagsfraktion. In der Zeit der Ampel saßen die Parteivorsitzenden noch bei den Koalitionsrunden mit am Tisch. Das endet mit der Bildung der neuen Bundesregierung. Dafür könnten Landespolitiker hochkommen: In sieben Bundesländern regieren die Grünen mit und können über den Bundesrat Gewicht einbringen.

Hohe Bedeutung kommt der für kommenden Montag angekündigten Entscheidung darüber zu, wer für die Grünen ins Bundestagspräsidium darf. Mit der bisherigen Vize-Präsidentin Katrin Göring-Eckardt aus Thüringen bewirbt sich eine ostdeutsche Frau aus dem Realo-Lager. Diesem gehört auch der im Iran geborene Ex-Parteichef Omid Nouripour an. Für die Parteilinken hat die bisherige Kulturstaatsministerin Claudia Roth ihren Hut in den Ring geworfen. Eine Kampfkandidatur wäre bei dne Grünen ein Novum, scheint aber stattzufinden.

Das Vakuum bleibt

Wie Roth, Nouripour und Göring-Eckardt steht eine ganze Reihe von mehr oder weniger prominenten Grünen-Politikern in der neuen Legislaturperiode ohne Posten und Funktion da. Sobald klar ist, welche Ausschussvorsitze den Grünen zufallen, gibt es noch ein wenig zu verteilen. Der bisherige Europaausschussvorsitzende Anton Hofreiter ist eher außen vor. Die amtierende Bundesfamilienministerin Lisa Paus zehrt intern noch immer von ihrem Ansehen als Finanzfachfrau aus der Zeit, bevor sie der Ruf ins Kabinett ereilte. Umweltministerin Steffi Lemke aus Sachsen-Anhalt ist auch noch so ein Name: eigentlich zu profiliert, zu bekannt und ostdeutsch, um plötzlich abserviert zu werden.

Aber keiner der bis hierhin genannten Grünen kommt in puncto Bekanntheit und Beliebtheit auch nur annähernd an die zwei heran, die sich aus der ersten Reihe der Bundespolitik verabschieden: Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Der ebenfalls in Umfragen beliebte Landwirtschafts- und Verbraucherminister Cem Özdemir, einer der wenigen Spitzengrünen mit Migrationshintergrund, steht vor dem Umzug nach Baden-Württemberg. Er will dort im nächsten Jahr Ministerpräsident werden. Angesichts dieses Vakuums an Personal mit Strahlkraft ist die fraglos starke Woche von Katharina Dröge allenfalls ein Hoffnungsschimmer aus Grünen-Sicht.

Lauter? Linker? Und was ist mit Baden-Württemberg?

Dabei überdecken die akut zu klärenden Personalfragen nur die nicht minder drängende Frage nach der künftigen Ausrichtung der Partei in Inhalt und Stil. Muss sie linker werden, um der zuletzt unerwartetet erfolgeichen Linkspartei wieder Wähler abspenstig zu machen? Soll sie weiter mit demonstrativem Verantwortungspragmatismus auf die mittigeren Wähler zielen, die sich in Scharen von den Grünen abgewendet haben oder nie für sie zu erreichen waren? Soll die Fraktion im Bundestag krawalliger als bisher auftreten, um sich zwischen den Extremen AfD und Linke überhaupt Gehör zu verschaffen? Oder zwingt diese Lage zu besonders konstruktiver Opposition und staatstragendem Auftreten?

Die Grünen-Stimmen hierzu sind zahlreich und gehen durchaus auseinander. Allerdings nur im Hintergrundgespräch. Mit Zitaten nach außen treten möchte kaum jemand. Die laufende Phase der personellen Neusortierung gebietet einerseits besondere Vorsicht, andererseits ist das Bild auch nicht so klar. Den Realos etwa gibt der Erfolg der Linken bei Jungwählern und mit sozialen Themen zu denken. Auch sie gestehen sich ein, dass es die von Habeck beschworene „Merkel-Lücke“ bei der Bundestagswahl so nicht gab. Als eine vor allem linksprogressiv auftretende Partei aber können sich die Grünen die Mühe sparen, Özdemir als Nachfolger des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu bewerben.

Und dann ist da noch das Ost-Thema: Wie die Grünen dort jemals wieder Land sehen wollen, ist völlig unklar. Außerhalb der wenigen Großstädte sind die Grünen in den neuen Bundesländern nur Nischenpartei, den prominent platzierten Ostpolitikerinnen Lemke und Göring-Eckardt zum Trotz. Die sich chronisch überhört fühlenden Ostverbände haben es in der neuen Fraktion nicht leichter: 7 von 85 Abgeordneten stammen aus den Ostländern, einschließlich Lemke, Göring-Eckardt und der gebürtigen Niedersächsin Baerbock, die aber ihr Mandat für ihren UN-Job aufgeben würde.

Zurück auf Anfang

Die besonders links auftretende Grüne Jugend wiederum fordert zwar laut „eine inhaltliche und personelle Neuausrichtung der Partei“, doch wie genau diese aussehen soll, lassen die Nachwuchsvorsitzenden Jakob Blasel und Jette Nietzard offen. Einigkeit besteht zwischen den Lagern eigentlich nur darüber, dass der Markenkern Klima- und Umweltschutz wieder mehr in den Vordergrund rücken soll. Hier vermutet und befürchtet man die größte Schwachstelle der schwarz-roten Regierungskoalition, hier können und wollen die Grünen nerven. Auch in der Erwartung, dass das eigene Image immer weniger von den Ampel-Jahren belastet sein wird, je mehr Konflikte und unerfüllte Versprechen der Merz-Regierung in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken.

Eine als solche klar erkennbare Umweltpartei, die von den eigenen Regierungsjahren nicht mehr heruntergezogen wird: Die Partei kehrt dahin zurück, wo sie unter Habeck und Baerbock einst zu neuen Höhen aufgebrochen war. Diesmal muss es nur ohne die beiden klappen – mit wem auch immer, wie auch immer. Aber immerhin mit einem selbstbewussten Auftakt.

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