Wie oft sich Niko Kovac an diesem Samstagnachmittag fassungslos abgedreht hat, hat womöglich irgendein Mensch mitgezählt. Statistisch hinterlegt ist es aber nicht. Vermutlich passierte das mindestens 25 Mal. So oft hatten seine Dortmunder auf das Tor von RB Leipzig geschossen – und waren gescheitert. Mit 0:2 verlor der BVB das wichtige Duell um die Qualifikation für die Champions League bei den Sachsen.
Dreimal hatte das Aluminium gezittert, mehrfach war Superkeeper Peter Gulasci zur Stelle und manchmal schossen die Borussen einfach vorbei oder über das Gehäuse. Hatte es in der Fußballgeschichte noch dringend Anschauungsbedarf für Chancenwucher gebraucht, dieses Spiel liefert 90 vollgepackte Minuten. Die allerdings völlig unterschiedlich verlaufen waren. Die erste Halbzeit ging klar an RB, mit 1:0 und zwei Treffern ans Aluminium gingen sie mit einer verdienten Führung in die Kabine. Der zuletzt formschwache und stark kritisierte Xavi Simmons hatte getroffen und danach mit einem „Labert-nicht-so-„Jubel für Aufsehen gesorgt.
Den anfälligen, nervösen und sich gegen das Pressing der Gastgeber kaum befreienden Dortmundern drohte die nächste unangenehme Luftleer-Debatte. Man kann gar nicht mehr zählen, wie oft die Fußballer in dieser Saison schon angezählt worden waren. Dabei war es doch so gewesen: In der Champions League hatten sie sich beim OSC Lille unter der Woche wuchtig auf der Krise erhoben, hatten einen frühen Rückstand gedreht und sich doch noch ins Viertelfinale der Champions League gespielt. Doch dann kamen diese ersten 45 Minuten und nichts war los. Das änderte sich unmittelbar nach der Pause. Kovac hatte bereits Mitte der ersten Hälfte umstellen müssen, weil sich Marcel Sabitzer womöglich schwer am Knie verletzte und lange auszufallen droht. Das tat dem BVB gut. RB-Nationalspieler David Raum fand, dass sich Kovac mit seiner Viererkette zunächst vercoacht hatte.
„BVB war in der zweiten Halbzeit offensiv einfach brutal“
So richtig auf Touren kam die Mannschaft erst in der zweiten Halbzeit, nachdem sie Loïs Openda mit dem 0:2 geschockt hatte. Es spielten fortan nur noch die Gäste aus Westfalen. „Der BVB war in der zweiten Halbzeit offensiv einfach brutal“, staunte und lobte RB-Matchwinner Gulasci. Im Wissen ohnehin schon alles verloren zu haben, rannten die Dortmunder wie die Wilden an, zwar nicht plan-, aber dafür erfolglos. Maxi Beier hämmerte binnen zwei Minuten zweimal ans Alu. Karim Adeyemi folgte ihm zwölf Minuten später. Torjäger Serhou Guirassy war kurz zuvor überragend freigespielt worden und scheiterte an Gulasci. Mittelfeldmann Pascal Groß verzog aus bester Position und nagelte den Ball über das Tor. Kovac konnte das alles nicht fassen. „Es ist Wahnsinn, was wir in der zweiten Halbzeit haben liegen lassen“, staunte auch Sportdirektor Sebastian Kehl. Der mittlerweile gerne herangezogene xG-Wert (expected goals) der Dortmunder lag bei etwa 3. Das ist gigantisch hoch.
„So ein Spiel darf man nie verlieren“, klagte der Dortmunder Trainer, der nach einem schwachen Start ebenso unter Druck steht wie sein Gegenüber Marco Rose. Über dessen Zukunft wird seit Wochen spekuliert, offenbar soll der Stuttgarter Erfolgstrainer Sebastian Hoeneß als Nachfolger im Gespräch sein. Dabei ist Rose noch im Amt. „Das ist eigentlich ein Wahnsinn. Ich muss mich ständig erklären, ich mache das auch gerne. Das ist schon schwer zu greifen, manchmal“, sagte er und freute sich über die Sprechchöre der Fans.
Kovac dagegen suchte weiter nach Erklärungen für das Erlebte und fand sie nicht: „Es ist unglaublich, ich kann es auch nicht erklären. Der Ball wollte heute nicht rein. War das das Quäntchen Glück? War es das Quäntchen Konzentration? Das ist völlig egal. Fakt ist, dass wir die Tore nicht gemacht haben und deshalb unglücklich und unverdient als Verlierer vom Platz gehen.“ Von seinen sechs Bundesligaspielen mit dem BVB hat Kovac nur zwei gewonnen. Das Minimalziel des Vereins, das Erreichen der Champions League rückt in immer weitere Ferne. Das nimmt auch den Trainer mit: „Das ist eine Katastrophe, das ist nicht der Anspruch an mich selbst.“
Zuletzt hatte es Berichte gegeben, dass es im Sommer bereits wieder zu einer Trennung kommen könnte. Es solle eine entsprechende Klausel in seinem Vertrag geben. „Sie spekulieren viel“, sagte er im ZDF, angesprochen auf die brisanten Gerüchte. „Vielleicht sollte ich den Vertrag mal zeigen, da steht nix drin.“ Kovac würde eine hohe Abfindung über mehrere Millionen Euro erhalten, sollte der BVB nicht in der Königsklasse landen, so hieß es.
„Ich bin mit anderen Erwartungen hergekommen“
Der BVB steht nach 26 Spieltagen nur auf Rang elf, hinter Vereinen wie dem VfL Wolfsburg und dem FC Augsburg. Diesen Klubs schienen die Dortmunder längst entwachsen. Die nationale Saison ist ein Desaster und sie könnte ganz fürchterlich enden. Die großen Duelle mit Hansi Flick und dem FC Barcelona in der Königsklasse könnten damit die letzten europäischen Auftritte sein. Der Rückstand auf den sechsten Platz beträgt sieben Punkte, das Restprogramm ist zudem enorm schwierig. Nach der Länderspielpause, die den Dortmunder angesichts vieler Abstellungen nicht guttut, geht es gegen die formstarken Mainzer (Rang drei!) und Freiburg (Rang sechs). Danach wartet der FC Bayern. Ob das Erreichen der Europa League angesichts der bitteren Lage ein Erfolg wäre, wurde Pascal Groß gefragt. Seine Antwort: „Nein. Wo wir stand jetzt stehen, wäre es aber positiv, weil wir auf Platz elf stehen. Ich bin mit anderen Erwartungen hergekommen.“
Er selbst sollte das Mittelfeld stabilisieren. Aber das klappt auch nur bedingt in dieser Spielzeit. „Es wird immer gesagt, dass wir nach der Champions League Probleme haben und keine Spiele gewinnen können, das nervt mich extrem. Heute haben wir es wieder nicht geschafft, das ist extrem bitter. Im Fußball ist Konstanz eine riesige Qualität, die lassen wir vermissen. Wir bekommen es nicht hin, alle drei Tage auf einem gewissen Level zu spielen.“ Mit nun vielleicht fatalen Folgen.