Kein Mord in der ARD, kein Liebesdrama im ZDF. Stattdessen Olaf Scholz und Friedrich Merz auf beiden Sendern. Es ist Wahlkampf, noch zwei Wochen bis zur 21. Bundestagswahl. Der kommende Regierungschef ist ausweislich der Umfragen CDU-Chef Merz, doch der Amtsinhaber steckt nicht auf. Beide Männer erscheinen im blauen Anzug und Krawatte vor dem Tisch von Maybritt Illner und Sandra Maischberger.
Wer deutsches Fernsehen nicht gewohnt ist, muss sich wundern: Eine der wichtigsten TV-Sendungen überhaupt kommt so nüchtern daher, als wäre es eine wöchentliche Debatte zur Randzeit in einem Spartensender. Das Kanzlerduell, zu dem anders als bei RTL und ntv am kommenden Sonntag Grünen-Kandidat Robert Habeck und AfD-Kandidatin Alice Weidel nicht eingeladen sind, ist sehr auf die 90-minütige Debattenzeit fokussiert. Dieser verbale Schlagabtausch verläuft in mehreren Runden. Auf geht’s!
Runde eins: Wortbruch oder Gewissensfrage?
Das erste Thema hat Unionskandidat Merz selbst gesetzt, indem er nach den Messermorden in Aschaffenburg erst einen Entschließungsantrag, den sogenannten Fünf-Punkte-Plan, mit AfD-Stimmen durch den Bundestag brachte und dasselbe noch einmal mit seinem Zustrombegrenzungsgesetz versuchte. „Das ist aus meiner Sicht ein Wortbruch und ein Tabubruch, deswegen kann man sich in Zukunft nicht sicher sein, was passiert, wenn die Dinge wieder schwierig werden“, begründet Scholz sein Misstrauen, dass Merz womöglich mit der AfD koalieren könnte. Beide Seiten sind auf das Thema vorbereitet. „Wortbruch“, sagt Scholz immer wieder, um Merz‘ Integrität infrage zustellen.
Merz weiß, er muss ruhig bleiben und sich nicht auf den letzten Metern vor der Wahl selbst beschädigen. Keinesfalls will er sich von Scholz zu einem Ausraster provozieren lassen und bleibt betont ruhig. Der Sauerländer erklärt seine Beweggründe, so wie er sie in der Vorwoche im Bundestag dargelegt hat. Die teils heftige Kritik ficht ihn nicht an. „Mich schmerzt, dass wir in diesem Land Demonstrationen haben, die über dieses Thema ‚Kampf gegen rechts‘ geführt werden, aber kaum jemand in diesem Land noch an die Opfer denkt, an die Familien denkt und dafür auf die Straße geht“, sagt Merz.
Merz zieht einen Zettel mit einem älteren Scholz-Zitat aus der Sakko-Innentasche, wonach sich niemand von AfD-Stimmen abhängig machen sollte. Merz‘ Sakko-Notiz wird aber eher nicht neben dem Spickzettel von Nationaltorwart Jens Lehmann aus dem WM-Viertelfinale 2006 im Deutschen Historischen Museum landen. Die Kontrahenten deuten das verlesene Zitat schlicht unterschiedlich aus.
Runde zwei: Wer hat einen Plan in der Migrationspolitik?
Die über den AfD-Eklat im Bundestag untergegangene Frage lautet: Braucht es eine Kehrtwende in der Migrationspolitik? Nein, sagt Olaf Scholz. Er sei wie „die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für einen harten, restriktiven Kurs, was die irreguläre Migration betrifft“. Deshalb seien die Zugangszahlen im Januar 2025 so niedrig wie zuletzt 2016, die Zahl der Abschiebungen deutlich gestiegen und eine Einigung in der EU über eine Reform der Asylpolitik durch ihn erzielt worden. Scholz spricht von „riesigen Verbesserungen“. Er verfolge einen „toughen Kurs“, den er fortführen werde.
„Sie beschönigen die Lage“, hält Merz entgegen, gesteht Scholz aber zu: „Die Bundesregierung hat ja nicht nichts getan, sie hat ein bisschen getan.“ Scholz habe aber mehr nicht durchsetzen können gegenüber der eigenen SPD-Fraktion und den Grünen. Dann streiten beide über die Ausdeutung der Gesetzeslage: Darf Deutschland jeden Asylbewerber an den deutschen Außengrenzen zurückweisen oder nicht? Merz‘ Forderungen seien „doof“, findet Scholz, weil sie das just verbesserte Europarecht gefährdeten, und er prognostiziert Merz reihenweise Niederlagen vor Gericht. Merz bescheinigt dem Noch-Regierungschef: „Sie leben nicht in dieser Welt.“
Runde drei: Wie raus aus der Wirtschaftskrise?
Diese Frage ruft erst mal nach Klärung, wie schlimm die Lage tatsächlich ist? Scholz räumt die schlechte Stimmung ein. Dass aber eine De-Industrialisierung im Gange sei, findet er übertrieben. Der Kanzler zählt eine Reihe von Indikatoren auf, die für eine Robustheit der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt in herausfordernder Lage sprächen. „Ich bin einigermaßen erschüttert, mit welcher Wahrnehmung Sie hier heute Abend den Zustand unserer Wirtschaft beschreiben“, sagt Merz. Der Verlust von 300.000 Industriearbeitsplätzen sei natürlich De-Industrialisierung. Unternehmen gingen „reihenweise ins Ausland“.
Merz versucht zu erklären, dass die wirtschaftliche Lage auch mit der Abschaltung der letzten drei deutschen Kernkraftwerke zu tun habe. Höchstens zu 0,00002 Prozent, findet Scholz. Er will künftig Unternehmen Steuern erlassen, wenn sie in Deutschland investieren. Merz will dagegen Steuersenkungen für alle Unternehmen, runter von 30 auf 25 Prozent Steuerbelastung. Merz attestiert Scholz „klassisches Strohfeuer“ und „Einmaleffekte, die Sie gar nicht bezahlen können“. Scholz findet die Steuerpläne der Union „völlig verfehlt“. Die bedeuteten im Kern, „dass diejenigen, die das allermeiste Geld verdienen, jetzt 20 Milliarden Steuersenkung bekommen sollen“.
Es ist der vielleicht klassischste Moment aller Kanzlerduelle: Der sozialdemokratische Kandidat wittert eine Übervorteilung der Reichen zulasten der Mitte. Der Kandidat der Union warnt vor neuen Schulden und Steuererhöhungen durch die SPD. Das Kapitel könnte lauten „Alle vier Jahre wieder“, würden die SPD-geführten Regierungen nicht so oft vor Ablauf der Legislaturperiode platzen.
Runde vier: schnelle Abfragen
Die Kandidaten müssen angefangene Sätze der Moderatorinnen vollenden. Doch Scholz ist kein Mann für Spielchen, deren Regeln er nicht vorgibt. Er beendet die Sätze meist mit vielen eigenen Sätzen. Ihm ist es wichtig, seine Positionen und das Geleistete darzulegen. Scholz hat ja oft das Gefühl, über die Medien dringe das nicht durch zu den Menschen, sondern immer nur die Aufgeregtheit seiner Kritiker. Beide Kandidaten kommen nach eigener Aussage auch ohne FDP zurecht, Merz kann Windräder weniger leiden als Scholz. Trumps Gaza-Pläne lehnen beide ab, wobei Merz für mehr Gelassenheit plädiert.
Scholz ist dafür gelassener bei Geschlechterfragen: „Wenn Menschen sich nicht einordnen wollen, soll ihnen das auch möglich sein, das zu zeigen“, findet der Kanzler. Merz sagt, er könne nachvollziehen, dass es für die Trump-Regierung nur die Geschlechter Mann und Frau gibt. Unter die ganz kurz abgehandelten Themen fällt auch das Klima: Das kommt nur in Form der kommenden CO2-Bepreisung zur Sprache: Beide Kandidaten wollen eine Kompensation in Form eines Klimageldes oder Klimabonus. Merz weist darauf hin, dass die Ampel das Vorhaben zwar in ihrem Koalitionsvertrag hatte, aber nicht umgesetzt hat.
Runde fünf: Soziales und Bürgergeld
Die Pflegekosten nehmen rasant zu auf bis zu 3000 Euro Eigenleistung für schwere Pflegefälle. Die Vorstellungen der beiden dazu gehen auseinander: Friedrich Merz sagt, er könne sich eine verpflichtende private Pflegeversicherung vorstellen, damit nicht immer weiter die Lohnkosten durch Sozialabgaben steigen. Olaf Scholz will die Pflegekosten auf 1000 Euro deckeln und will die Vermögenden stärker zur Finanzierung der Pflegeversicherung heranziehen.
Beim Bürgergeld kündigt Merz eine Namensänderung an und massive Einsparpotenziale: Wenn es gelinge, nur 400.000 Bürgergeldempfänger in Arbeit zu bringen, würden jährlich 6 Milliarden Euro an Ausgaben eingespart. Scholz hält die Möglichkeiten für ausgeschöpft, den Druck auf Bürgergeldbezieher zu erhöhen, da habe seine Regierung viel getan. „Ich bin der Politiker in Deutschland, der am meisten für harte Sanktionen beim Bürgergeld steht“, sagt Scholz. Merz entgegnet: „Das ist mir noch nicht aufgefallen.“
Runde sechs: Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?
Schrumpfende Wirtschaft, wachsende Aufgaben: Es wird eng im Haushalt. Weil im laufenden Jahr noch immer geplante Ausgaben über 25 Milliarden Euro nicht gedeckt seien, „habe ich die Regierung beendet“, erinnert Scholz. Er erklärt noch einmal, warum er die Schuldenbremse für mehr Investitionen öffnen will. Auch weil im Regelhaushalt ab 2028 mindestens zusätzliche 30 Milliarden Euro für die Bundeswehr zu Buche schlagen, die noch über das kreditfinanzierte Sondervermögen ausgelagert sind. Merz findet den deutschen Schuldenstand jetzt schon zu hoch, auch wenn er der mit Abstand niedrigste aller großen Volkswirtschaften ist.
Merz will auch gar nicht mit den real vorhandenen Rahmendaten argumentieren, sondern mit denen, die er erreichen werde: „Wir rechnen viel zu sehr mit den gegenwärtigen Zahlen, wir müssen wieder wachsen“, sagt Merz. Bei mehr Wirtschaftswachstum gebe es auch mehr Spielräume im Haushalt. Doch Moderatorin Maischberger erinnert Merz daran, dass dieser eben noch selbst gesagt habe, dass ein akut drohender Zollkrieg mit den USA jedwedes Wirtschaftswachstum gefährde. „Das ist mir zu viel Was-wäre-wenn, Frau Maischberger“, entgegnet Merz. Ja, was denn nun?
Scholz grätscht geistesgegenwärtig rein und erklärt Merz: Maischbergers Frage mache „die Lächerlichkeit Ihres Vortrags deutlich“. Merz bleibt ruhig. Die Sozialdemokraten hätten keine anderen Antworten als Steuererhöhungen und neue Schulden. Letztere könnten aber auch mit Merz kommen. Der will gen Ende der Debatte eine Reform der Schuldenbremse auf Nachfrage nicht ausschließen.
Runde sieben: die große weite Welt
Den drohenden Zollkrieg mit Trump streifen die Duellanten schon etwas früher im Gespräch. Das Thema Ukraine und Deutschlands Umgang mit Russland sind das abschließende Thema. Dass man sich in Deutschland bei so einer wichtigen Debatte weder mit dem Zustand der EU noch mit der globalen Herausforderung China befasst, würde die Bewohner der meisten anderen Staaten wohl überraschen. Was ein Ende des Ukraine-Krieges angeht, zeigen sich beide erstaunlich planlos: Sie hoffen kommende Woche mehr zu erfahren, wenn US-Vizepräsident J.D. Vance zur Sicherheitskonferenz in München anreist.
Merz gibt Scholz dennoch einen mit: „Ich glaube man hätte ihn [den Krieg] früher beenden können, wenn man der Ukraine früher und beherzter geholfen hätte, aber das ist vergossene Milch.“ Der CDU-Chef bleibt dabei, dass Deutschland in Absprache mit den westlichen Partnern auch den deutschen Marschflugkörper Taurus bereitstellen sollte. Scholz findet das weiterhin verantwortungslos. Die Frage nach einem NATO-Beitritt der Ukraine stellt sich aus Sicht beider derzeit nicht, die nach einem EU-Beitritt absehbar schon.
Wer hat gewonnen? Wohl eher Merz
Die 90 Minuten sind schnell rum. Beide präsentieren brav ihre Schlusssätze. Scholz gibt sich vorher zuversichtlich, dass sich „Meinungsforscher und Meinungsmacher“ irren und er doch im Amt bleiben wird. Merz lacht bei der Frage nach Koalitionsverhandlungen mit Scholz. Er geht offenbar davon aus, dass der amtierende Kanzler am 24. Februar schon keine Rolle mehr in der deutschen Politik spielt. Er erwarte einen Wahlsieg für seine Union und dass sich SPD und vielleicht auch die Grünen in der Wirtschafts- und Migrationspolitik dann auf ihn zubewegten. „Für linke Politik gibt es in diesem Land schon lange keine Mehrheit mehr.“
Da klingt ein Hauch jener Arroganz durch, die Merz über das ganze Duell hinweg unbedingt vermeiden will. So wie jede andere impulsive Emotion. Er redet schon beinahe überbetont ruhig und langsam, setzt nur hier und da ein paar Spitzen und die sind erkennbar geplant: Scholz‘ angebliche Realitätsverluste in der Wirtschafts- und Migrationspolitik und dass einige von Scholz‘ langkettigen Sätzen unverständlich gewesen seien. Merz lässt sich nicht provozieren, besteht gewissermaßen die von Scholz gestellte Wutprobe.
Der Bundeskanzler verzichtet seinerseits darauf, nicht einmal die völlig fehlende Regierungserfahrung von Merz anzusprechen. Der war weder Bürgermeister noch Staatssekretär oder Minister einer Landes- oder Bundesregierung. Scholz versucht eher mit dem Erreichten zu punkten und sich darüber hinaus als harten Hund darzustellen, der macht und nicht nur redet: Asylzahlen gesenkt, Bürgergeldsanktionen eingeführt. Selbst einer „Kettensäge“ zu Abbau der Bürokratie stimmt Scholz auf Nachfrage zu. Es ist ein sehr lebendiger Auftritt des Kanzlers, der laut Umfragen noch so viel aufzuholen hat. Dass ihm das in diesem Duell gelungen ist, scheint fraglich. Dafür erlaubt sich Merz einfach zu wenige Fehler.