Am 7. Oktober 1949 wurde die DDR gegründet. Eine Feier zum 75. Jahrestag gibt es nicht. „Warum sollte man die staatliche Etablierung einer Diktatur feiern?“, sagt eine Expertin. Die Folgen der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands bleiben bis heute spürbar.
Die letzte Geburtstagsfeier ist 35 Jahre her. Auf einer Tribüne an der Karl-Marx-Allee bewundern graue Herren vorbeiziehende Stahlhelme, Panzer und Raketenwerfer. Hinter ihnen prangt der Leitspruch „40 Jahre DDR“ über Hammer und Zirkel. Dazu Marschmusik. In der ersten Reihe lächelt hager der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, neben ihm Kremlchef Michail Gorbatschow. Es ist der 7. Oktober 1989.
Zum 75. fällt die Feier aus. Anders als das 75. Jubiläum der Bundesrepublik im Mai dürfte der Jahrestag der DDR-Gründung 1949 sang- und klanglos übergangen werden. Erinnert wird stattdessen an den Triumph der friedlichen Revolution vor 35 Jahren und an den Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober.
Anna Kaminsky, Direktorin der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, findet das richtig: „Warum sollte man die staatliche Etablierung einer Diktatur feiern?“ Und doch sagt sie, es sei wichtig, an die historischen Hintergründe zu erinnern. Denn die Gründung des zweiten deutschen Nachkriegsstaats besiegelte mehr als 40 Jahre deutsche Teilung – eine Erfahrung, die Millionen Menschen bis heute mit sich tragen.
Sie prägte eine Sicht auf die Sowjetunion, auf Russland, auf die USA und die NATO, die die Deutschen in Ost und West oft bis heute entzweit. „Natürlich wirkt die DDR nach mit dem, wie sie die Menschen geprägt hat und auch mit den Erwartungen an staatliche Institutionen, an staatliches Handeln und an die Demokratie“, sagt Kaminsky. Auch beurteilen viele den verblichenen SED-Staat im Rückblick erstaunlich milde. Aus einer Befragung von gut 3500 Ostdeutschen schlossen Forscher der Universität Leipzig 2023, dass zwei Drittel eine „Sehnsucht nach der DDR“ teilten.
Kurz zur Erinnerung: Die DDR gründete sich am 7. Oktober 1949, nachdem sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs überworfen und die Besatzungszonen auseinanderentwickelt hatten. Die Einführung der D-Mark in der britischen, französischen und amerikanischen Zone im Westen 1948 verschärfte die Spannungen.
Nach Gründung der Bundesrepublik mit Verkündung des Grundgesetzes im Mai 1949 sah sich die Sowjetunion unter Druck, in ihrer Besatzungszone nachzuziehen. In seiner ersten Regierungserklärung prangerte DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl das am 12. Oktober 1949 an: „Der von den Westmächten ins Leben gerufene Bonner Separatstaat ist die Vollendung der Spaltung Deutschlands.“ Wegen der „drohenden Gefahr eines imperialistischen Krieges“ sei eine „wirkungsvolle Führung“ nötig. „Dazu haben wir die Deutsche Demokratische Republik konstituiert und die provisorische Regierung gebildet.“
Immer wieder wurde gestritten, ob die Spaltung zu verhindern gewesen wäre. Ob die Regierung der Bundesrepublik Angebote der Sowjetunion hätte annehmen sollen. Der Historiker Wolfgang Benz kam in einer detaillierten Analyse schon vor Jahrzehnten zu dem Schluss: „Die Teilung Deutschlands war offenbar unvermeidbar gewesen.“
Das sieht Kaminsky genauso. „Das war überhaupt nicht zu verhindern“, sagt die in Gera geborene Sozialwissenschaftlerin. „Die Sowjetunion beharrte ja darauf, dass ganz Deutschland unter ihren Bedingungen existieren sollte. Also das heißt: keine Demokratie, keine freien Wahlen, keine Freiheitsrechte.“
Die DDR wurde ein Land, in dem 1953 Hunderttausende für mehr Freiheit auf die Straßen gingen und von Panzern brutal gestoppt wurden. Aus dem bis 1990 rund 3,8 Millionen Menschen flüchteten. Das sich mit einer Mauer abschottete. Und das über die Jahre mehr als 600.000 Leute im Dienste der Staatssicherheit zur Überwachung der eigenen Bevölkerung einsetzte. Bis zu 250.000 Menschen saßen Schätzungen zufolge zeitweise aus politischen Gründen in Haft.
Aber es war auch ein Land, in dem Menschen Familien gründeten, arbeiteten, zur Schule und zur Arbeit gingen, in Seen sprangen, an der Ostsee in der Sonne lagen. Es war das Land von Jugendweihe und Betriebssportgemeinschaft, von Multifunktionstisch und Plattenbauwohnung, von Tempolinsen und Makrelenmix in Büchsen, von Pittiplatsch und Fernsehballett. Ein Land mit einem eigenen Universum an Waren, Geschmacksnoten und Gerüchen, an Regeln und Gepflogenheiten, an Alltag und Erinnerungen. Ein Land, das plötzlich weg war.
Etwa eine halbe Million Menschen lockt diese vertraute oder fremde Welt jedes Jahr ins Berliner DDR-Museum, das gerade das praktische Handbuch „DDR-Führer – Reise in einen vergangenen Staat“ neu aufgelegt hat. Beflügelt das Museum die Ostalgie? „Gar nicht“, sagt Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des Hauses. „Wir lehnen das ab.“ Einige Besucherinnen und Besucher hätten natürlich nostalgische Gefühle, nach dem Motto: „Ach guck mal, das Kochgeschirr, das hatte unsere Oma auch.“ Aber das sei nicht das Ziel. „Wir haben sogar viele Beschwerden, dass wir die ’schöne DDR‘ so ironisch darstellen und so ’schlecht machen‘.“ Wolle sagt, den verklärenden Blick auf den untergegangenen Staat könne er nicht richtig ernst nehmen.
„Ja, vor 30 Jahren oder vor 40 Jahren war alles viel schöner“, sagt der 73 Jahre alte Historiker, geboren in Halle an der Saale. „Das stimmt. Ich war 40 Jahre jünger und hatte das Leben vor mir.“ Aber wer sich zurücksehne, solle sich vorstellen, noch einmal eine Woche in der DDR zu leben: „Dass sie beim Bäcker anstehen, beim Fleisch anstehen, und Gemüse im Konsum gibt es sowieso nicht mehr. Man bekommt kein Baumaterial, man bekommt kein Auto, man bekommt kein Telefon. Dazu die Parteiversammlungen, die Beobachtung durch die Stasi, die vorgeschriebenen Demonstrationen und Festumzüge, die Verlogenheit der öffentlichen Medien. Nach einer Woche hätten wir wieder Revolution.“
Den Jubelfeiern vom 7. Oktober 1989 hat sich Wolle nach eigenen Worten übrigens entzogen, jenem 40. Geburtstag mit der pompösen Parade auf der Karl-Marx-Allee. „Wir haben damals zu jedem 7. des Monats eine Demonstration auf dem Alexanderplatz gemacht, als Protest gegen die Wahlfälschung am 7. Mai“, erzählt der Historiker. Gemeint sind die Unregelmäßigkeiten der DDR-Kommunalwahl 1989. Also ging Wolle protestieren, so wie Tausende Menschen an vielen anderen Orten des Landes. Allein im sächsischen Plauen waren es 15.000. Zwei Tage später zogen 70.000 über den Leipziger Ring – ein Schlüsselmoment der friedlichen Revolution. Zum 35. Jahrestag ist das der offizielle Anlass zum Feiern. Am 9. Oktober spricht in Leipzig Bundeskanzler Olaf Scholz.