Toni Kroos hat einen traurigen Beckenbauer-Moment und verspürt nur „Leere“, Joshua Kimmich weint: Die DFB-Elf scheidet nach dem Spanien-Schock bei der Heim-EM aus und weiß nicht, wohin mit sich und dem Frust. Über eine verpasste Chance, die nur einmal im Leben kommt.
Abpfiff. Die deutschen Nationalspieler sacken in sich zusammen. Fallen auf den Stuttgarter Rasen. Die meisten im spanischen Strafraum, wo sie Sekunden zuvor noch mit aller Macht versuchten, ein Elfmeterschießen zu erzwingen. Ein verlorener Joshua Kimmich lehnt lange am Pfosten und starrt mit glasigen Augen in die Leere. Der Schock sitzt tief, der Schmerz breitet sich in den geschundenen Körpern aus. Die 1:2 (0:0, 1:1)-Pleite bei der Heim-EM nach dem Last-Minute-Treffer der Spanier ist eine der bittersten in der DFB-Geschichte.
Nur einer schleicht mit gesenktem Haupt zum Mittelkreis. Ein einsamer Toni Kroos weiß nicht, wohin mit sich. Im Moment, in dem die Karriere dieses Weltfußballers so bitterböse endet. Der DFB-Star, der zum Abpfiff komplett aufhört mit professionellem Fußball, erlebt seinen Beckenbauer-Moment. Nur anders als Kaiser Franz damals beim WM-Titel 1990 ist Kroos am Boden. Er bedankt sich als Erstes bei den Schiedsrichtern, dann kommen fast alle spanischen Akteure und umarmen ihn.
Während im Rund und auf den Straßen um das Stadion die Fans versuchen, das EM-Aus irgendwie zu fassen, müssen die DFB-Kicker durch den Medien-Tunnel in den Katakomben. Emre Can, zum ersten Mal beim Turnier in der Startelf, aber nur eine Halbzeit auf dem Platz, eilt gesenkten Hauptes vorbei. Mit einer Cola in der Hand entschuldigt der Dortmunder sich leise, dass er kein Interview gibt. Als Waldemar Anton spricht, huscht im Hintergrund der an diesem Abend glücklose Kai Havertz vorbei. Jonathan Tah gestikuliert, dass er am Handy hänge und deshalb nicht sprechen könne.
„Was geht in mir vor?“, Kroos stellt sich und wiederholt in der Mixed Zone zunächst die erste Frage, um sich etwas Zeit zu kaufen. „Da ist eine Leere“, gibt er dann zu. Unabhängig von seinem Karriereende regiere die „Enttäuschung über das Turnier-Aus“, das „schon weh tut, vor allem die Art und Weise“. Kroos zieht das Fazit: „Man kann einen gewissen Stolz auf diese Mannschaft fühlen, aber am Ende können wir uns wenig davon kaufen.“
Bundestrainer Julian Nagelsmann fügt hinzu: „Es sind Tränen geflossen. Joshua Kimmich hat geredet, ich habe auch noch ein paar Worte gesagt. Es war heute nicht verdient, und der Schiedsrichter hat auch ein bisschen für Spanien gepfiffen.“ „In der Kabine ist Stille“, erklärt Niclas Füllkrug und sagt: „Im Moment gibt es keinen Trost.“ Und Kimmich, der mit dem FC Bayern so große Erfolge gefeiert hat, aber mit der DFB-Elf wieder nichts gewinnt, resümiert: „So eine Heim-EM kommt nur einmal im Leben. Bitter. Sehr, sehr bitter.“
Der Schock sitzt tief wegen dieser einen vermaledeiten Minute, die der deutschen Nationalelf am Ende fehlt. Allerdings, dass die Partie zu einem mitreißenden Krimi ausartet, ist zunächst nicht abzusehen. Denn die Fans sehen zunächst die vielleicht die brutalste erste Halbzeit dieser EM. Selbst Mittelfeld-Stratege Kroos keilt so sehr dazwischen, dass Barcelonas Pedri innerhalb der ersten 10 Minuten vom Platz muss und das spanische Sport-Blatt „Marca“ den Deutschen für sein „hartes Tackling“ rügt.
Die ersten 45 Minuten sind unappetitlich: Zwar ist es ein unglaublich intensives Spiel, aber ein wildes Rumgehacke macht den Spielfluss kaputt. Zur Halbzeit hat Deutschland hat siebenmal Foul gespielt, Spanien achtmal. Hinzu kommen etliche Fehlpässe, vor allem in deutschen Spiel. Die besseren Torchancen hat im ersten Abschnitt zwar die Furia Roja, die Spielkontrolle eher das DFB-Team. Etwas wirklich Zwingendes ist auf beiden Seiten nicht dabei.
Dann legt die spanische Nationalmannschaft nach dem Wiederanpfiff plötzlich eiskalt und schnörkellos los. Nach einer Großchance, Alvaro Morata drehte sich geschickt um Tah, sein Schuss rauschte aus kurzer Distanz über den Kasten von Manuel Neuer, ist es in der 52. Minute der 16-jährige Lamine Yamal, der die Führung einleitet. Bei seiner dritten Vorlage im Turnier legt der Flügelstürmer vom FC Barcelona sich David Raum im Tänzchen Eins-gegen-Eins am Sechszehner zurecht. Yamal täuscht einen Lauf an, spielt aber stattdessen einen einfachen Flachpass in die Strafraummitte. Dort pennt der für Can eingewechselte Robert Andrich und Dani Olmo, der Leipziger kam für den früh verletzten Pedri, kann unbedrängt heranflitzen und in simpler Manier flach ins linke Eck einnetzen.
Und ab diesem Moment hat diese Partie Feuer gefangen. Die DFB-Elf antwortet mit wütenden Angriffen, drängt auf den Ausgleich. Die Fans sind nun voll da, peitschen die Mannschaft so laut nach vorne wie vielleicht seit 2014 nicht mehr. Aber Großchancen wollen zunächst nicht herausspringen. Zu clever verteidigen die Spanier, sind immer eng und aggressiv am Mann, wenn Jamal Musiala, Kai Havertz oder der eingewechselte Florian Wirtz sich offensiv in Szene setzen wollen.
In der 57. brandet Jubel auf, weil Niclas Füllkrug eingewechselt wird. 13 Minuten später steht der Stürmer im Abseits, als viele Fans ein erstes Handspiel der Spanier erahnen wollen. Wiederum sieben Minuten darauf hat der Dortmunder beinahe seinen nächsten großen Auftritt bei dieser EM: Nach starker Vorarbeit von Wirtz trifft er im Fallen den Pfosten. Es macht Klatsch – und ein Raunen geht durchs Rund. Zentimeter fehlen zum Ausgleich.
Doch nachdem Havertz seinen Lupfer frei vor Unai Simón über den Keeper und das Tor hebt (82.), kommt es tatsächlich noch zur fast nicht mehr möglich gehaltenen Erlösung. Und das DFB-Team hat sich den Treffer mit Mut, Einsatz und Kampf verdient: Der für Raum gekommene Maximilian Mittelstädt flankt von links auf den zweiten Pfosten, dort steigt Joshua Kimmich hoch, als wäre er schon immer ein Kopfballungeheuer gewesen, und legt ab auf Wirtz, der wunderschön per Volley an den Innenpfosten und ins Tornetz vollendet (89.).
Eine Fan-Eruption schwappt durch das Stadion, alles und jeder springt auf. Die Auswechselbank sprintet zum Jubeln aufs Feld und heizt anschließend dem Publikum noch einmal ein. Es ist unfassbar laut. Vor dem Schlusspfiff haben Füllkrug und der in der 80. Minute für Tah ins Spiel geworfene Thomas Müller sogar noch gute Chancen, um die Partie in der regulären Spielzeit zu entscheiden.
Doch auf die Erlösung folgt bald schon der Schock. Der Schmerz. Die Trauer. In der 105. Minute hat zunächst Wirtz die Führung auf dem Fuß, aber der Joker setzt die Kugel mit seinem schwachen linken Fuß nach Müller-Pass knapp neben den Pfosten. Der Aufschrei im Stadion wird nur übertönt von dem in der 106. Minute: Die deutschen Fans wittern wieder einen Handelfmeter. Diesmal muss es bei dem Schuss aufs Tor, den Marco Cucurella Hand stoppt, doch aber wirklich einer sein? Nein, sagt Schiedsrichter Anthony Taylor nach Rücksprache mit dem Videoschiedsrichter. Die Elfer-Wut, sie bringt das Stuttgarter Stadion noch einmal aufs Neue zum Kochen.
Doch kurz darauf jubeln die Spanier. Zunächst, weil Keeper Simon einen starken Füllkrug-Flugkopfball entschärft (117.), und dann, weil Mikel Merino mit einem traumhaft schönen Kopfball die DFB-Elf mitten ins Herz trifft (119.). Olmo wird auf der linken Seite nicht mehr aggressiv genug angelaufen und im Fünfmeterraum wird Antonio Rüdiger – der Fels in der Brandung in diesem Spiel, der zuvor jeden Ball weggrätscht und hinausköpft – ein einziges Mal überspielt. Der spanische Joker sagt danke, Neuer ist ohne Chance.
Die deutschen Fans reagieren schockiert. Es wird still, nur der spanische Block macht mächtig Alarm. Aber dieses bravourös kämpfende DFB-Team hat noch immer einen im Köcher. Erst verpasst Musiala einen Abschluss, als der Ball ihm im Strafraum vor die Füße fällt, anschließend köpft Füllkrug Zentimeter neben den rechten Pfosten.
Der Himmel färbt sich rot, aber der Fußballgott hält es an diesem Abend nicht mit Deutschland. Toni Kroos schlägt noch einen letzten Freistoß. Dann ist Schluss. Mit dem EM-Viertelfinale, mit seiner grandiosen Fußballer-Karriere. Mit der einmaligen Chance der DFB-Elf bei diesem Heim-Turnier. Sie wird für diese Kicker nie wieder kommen. Deshalb regieren in Stuttgart Kummer und Leere.
Vor dem Stadion spielt ein Schotte, der sich zu diesem Spiel verirrt hat, mit seinem Dudelsack Partysongs. Im Gegensatz zum Auftaktspiel gegen die Mannschaft von der Insel wollen nur wenige mittanzen. Vielerorts wird über das vermeintliche Handspiel diskutiert, aber auch der Kampf und die Energie des DFB-Teams werden gelobt. In der S-Bahn verscherbeln deutsche Fans Spaniern Tickets für das Halbfinale.