Der silbern glänzende Pokal steht lockend am Spielfeldrand, 66.000 Fans in München und 84 Millionen in der ganzen Republik sind bereit zum Abheben. Die Sehnsucht nach einem unbeschwerten Fußballfest „vereint im Herzen Europas“ und „völlig losgelöst“ von Krieg und Krisen ist riesengroß. „Ein Sommermärchen 2.0 ist die Idealvorstellung“, sagt Julian Nagelsmann vor dem kniffligen EM-Eröffnungsspiel gegen Schottland und verspricht: „Ich werde alles dafür tun, dass das wieder passiert.“ Für dieses Ziel, für den großen Coup nach drei bitteren Turnierpleiten „brennen wir alle“, betont der Bundestrainer.
Damit das auch für die Fans gilt, appelliert Nagelsmann: „Ich will, dass uns das Land nach vorne peitscht, wir wollen den Heimvorteil nutzen!“ Das Objekt der Begierde hat er in der „Fußball Arena München“ am Freitag (21 Uhr/ZDF und MagentaTV und im Liveticker auf ntv.de) direkt vor der Nase: Franz Beckenbauers Witwe Heidi, Bernard Dietz und Jürgen Klinsmann tragen den Henri-Delaunay-Pokal zum Platz, „Erbe“ İlkay Gündoğan soll den Pott am Traumziel Berlin am 14. Juli als vierter DFB-Kapitän in den Nachthimmel stemmen.
Dass er diese goldene Gelegenheit als Junge aus einem „700-Seelen-Dorf“ bekomme, sei „verrückt“, meint Nagelsmann, in seiner oberbayerischen Heimat Issing gebe es „mehr Kühe als Einwohner“. Etwas Nervosität spüre er, „aber die war auch vor jeder Mathe-Schulaufgabe da“.
DFB-Präsident Bernd Neuendorf prophezeit beim „Leuchtturmprojekt“ des Verbandes „viele magische Momente“. Wie von Zauberhand will Nagelsmann mit einer verzückenden Elf voller „Anpacker“ zu einer „Rückkehr des Optimismus in unserem Land“ beitragen. Turnierdirektor Philipp Lahm wünscht sich wie beim Original-Sommermärchen 2006 wieder „mehr Solidarität und einen größeren Zusammenhalt“ in diesem von Pandemie und politischen Problemen durchgerüttelten Land.
Vor 18 Jahren gab der damalige Linksverteidiger Lahm mit seinem Traumtor gegen Costa Rica (4:2) den Startschuss für einen sensationellen Sommer, Nagelsmann sieht die Zeit für neue Helden gekommen. „Nicht nur Europa, sondern die ganze Welt“, schaue zu, sagt er über das „große Privileg“ Heim-EM und fordert: „Lasst es uns wuppen!“
Vor dem Start hat der mit 36 Jahren jüngste deutsche Turniertrainer noch Tipps von seinen Vorgängern Klinsmann, Joachim Löw und Hansi Flick sowie von Nationalcoaches anderer Sportarten eingeholt. Ihr wichtigster Hinweis: „Ich soll einen eigenen Weg gehen.“
Das tut er. Seit den mitreißenden März-Länderspielen sind alle Rollen in seinem Team klar verteilt, die Startelf gegen die vom Bundestrainer als echtes „Brett“ eingeschätzten Schotten ist seit Monaten bekannt. Daran ändern auch die dürftigen Vorbereitungsspiele, die Zweifel an der körperlichen Verfassung von Kapitän Gündoğan oder die jüngsten Patzer von Torwart Manuel Neuer nichts. „Manu hat mein Vertrauen und wird ein gutes Turnier spielen“, betont Nagelsmann.
Die Achse mit Neuer, Abwehrchef Antonio Rüdiger, Mittelfeld-Boss Toni Kroos, Gündoğan und Spitze Kai Havertz steht. Rückkehrer Kroos soll alles zusammenhalten und das deutsche Spiel bei seiner Abschiedsvorstellung mit der Aura des sechsmaligen Champions-League-Siegers lenken. Seit er sich zum Comeback entschieden habe, habe er den Titel „im Kopf“, sagt er, die DFB-Elf sei „in der Lage, jeden zu schlagen“. Störende Debatten wurden im idyllischen Turnierquartier von Herzogenaurach rechtzeitig abgebügelt oder klug moderiert. Deshalb glaubt niemand an eine Fortsetzung der Pleiten-Serie bei Turnieren oder die vierte Auftaktniederlage nacheinander.
Schottland und München sollen vielmehr „eine Initialzündung sein“ und „die Fesseln lösen“, wie Routinier Thomas Müller sagt. Ein gelungener Auftakt wie 2006, weiß Gündoğan, „kann uns durch das Turnier tragen. Die Verantwortung liegt bei uns.“ Nagelsmann fordert deshalb von seiner Mannschaft, sie müsse die Fans sofort „mitnehmen“ auf die Titelreise und „mit attraktivem Fußball begeistern“.
Auch die Schotten kämen – unterstützt von den Tausenden sanges- und trinkfreudigen Mitgliedern ihrer „Tartan Army“ – viel „über die Emotionalität“. Obwohl der Gegner „sehr kompakt“ verteidige, erwarte seine Mannschaft kein „kick and rush“, Schottland sei „fußballerisch sehr gut“.
Umso mehr gelte es, Andy Robertson vom FC Liverpool und Co. „Stress“ zu machen. „Es muss weh tun, gegen uns zu spielen“, verlangt der Bundestrainer. Tugenden wie Kampfgeist und Widerstandskraft sollen das Publikum mitreißen und „die Emotionen wecken, die wir brauchen“.