Noch ist nichts passiert. Noch hat der FC Bayern alle Chancen, die nächste Runde der Champions League zu erreichen.
Zwar müssen die Münchner dafür das Rückspiel am 5. März in der eigenen Arena gegen Lazio Rom zwingend gewinnen, aber die 0:1-Hypothek aus dem Hinspiel an diesem Mittwochabend im Stadio Olimpico hat eine überschaubare Größe. Anders als die Diskussionen, die nun mit noch stärkerer Wucht über den Rekordmeister hereinbrechen. Im Zentrum: Trainer Thomas Tuchel.
Tuchel kassierte dem Datendienstleister Opta zufolge in seinem 43. Pflichtspiel als Bayern-Trainer nun die zehnte Niederlage – so oft hatte Vorgänger Julian Nagelsmann in dessen 84 Partien verloren. Besonders bemerkenswert: Von seinen sieben K.-o.-Spielen hat der aktuelle Rekordmeister-Coach bisher nur eines gewonnen. Das Duell mit Drittligist Preußen Münster in der ersten Runde des DFB-Pokals. Verrückt.
Einen ersten Vorgeschmack auf das, was jetzt rasant an Fahrt aufnimmt, lieferte ein italienischer Journalist bei der Pressekonferenz nach dem Duell. Ganz unverblümt fragte er den Trainer des FC Bayern, ob er sich Sorgen um seinen Job mache. Die klare Antwort, eigentlich: „Nein“. Zufrieden war der Medienmann damit nicht, also fragte er nochmal nach. Ob Tuchel sich für den richtigen Mann halte? Damit hatte er den Coach so richtig gereizt. Und der reagierte dann doch etwas bärbeißig: „Ich würde gerne über das Spiel sprechen“, sagte er. Und auf die neuerliche Nachfrage etwas lauter: „Ich habe mit Nein geantwortet.“ Punkt.
Abmoderiert ist die Debatte damit freilich nicht. Zu wild toben die Gerüchte, wie es mit Tuchel beim FC Bayern weitergehen könnte. Nach der erschütternden Pleite in der Fußball-Bundesliga bei Bayer Leverkusen (0:3) war unter anderem der Name Hansi Flick als möglicher Nachfolger aufgetaucht. Und über allem schwebt natürlich weiterhin Xabi Alonso, der Supertrainer der Werkself. Den mögen sie in München sehr gerne. Als Mensch, aber eben auch als Trainer. Das wilde Brodeln in der Gerüchteküche können sie beim Rekordmeister so gar nicht brauchen, die Liste der Dinge, die sie in den Griff bekommen müssen, ist eh schon mehr als lang. Harmlos, ideenlos und unerklärliche Blackouts. Zur Erinnerung: Im DFB-Pokal hatte man sich schon Ende Oktober beim Drittligisten 1. FC Saarbrücken in der zweiten Runde kräftig blamiert. Aktuell droht den Bayern die erste Saison seit 2011/12 ohne Titelgewinn.
Das ist eine gefühlte Ewigkeit her. Wobei das natürlich Quatsch ist, denn auch unter den Vorgängern Julian Nagelsmann und Flick war es alles andere als ruhig an der Säbener Straße. Nagelsmann hatte, so sagt man, die Kabine verloren und mit seinem Privatleben für Wirbel gesorgt. Flick hatte sich vehement an Sportvorstand Hasan Salihamidžić abgearbeitet, der seit dem vergangenen Sommer Geschichte beim FC Bayern ist. So stellen sie sich nun also vor den Trainer und das deutlicher, als noch am Samstag in Leverkusen. Wo das Bekenntnis von Klubchef Jan-Christian Dreesen danach eher als halbherzig bewertet worden war.
In seiner Bankettrede wurde der Boss nun abermals deutlich, bemühte sich aber auch um großen Optimismus: „Die Römer haben uns in der zweiten Halbzeit den Schneid abgekauft. Da gibt es auch nichts schönzureden, das haben wir uns anders vorgestellt.“ Aber es gelte auch das Mantra der alten Alphatiere. „Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß haben immer bei einem 0:1 auswärts gesagt: Das ist ein Ergebnis, mit dem kann man leben. Das kannst du zu Hause noch gewinnen. Das ist die Botschaft, die wir mitnehmen müssen. Unsere Mannschaft hat die Qualität.“ Sie muss sie nur abrufen. Auch eine Botschaft, die an Tuchel geht. Dreesen hatte schon vor dem Spiel klargemacht, dass die Champions League große Priorität genießt. Er sprach sogar vom Finale. Ein Knockout in der Runde der besten 16, gegen Lazio, das würde in München sicher sehr viel verändern.
Sportdirektor Christoph Freund rückte in den Katakomben des Stadio Olimpico nicht vom Trainer ab. „Wir sitzen alle in einem Boot. Es ist jetzt nicht einfach, aber wir werden da gemeinsam rauskommen, das ist unser großes Ziel.“ Er erlebe Tuchel in der täglichen Arbeit, sehe, wie er mit der Mannschaft umgehe und trainiere. „Er kämpft natürlich auch mit der Situation, weil er die Mannschaft anders sehen will auf dem Platz.“ Anders, als gegen Bayer und anders, als in den zweiten 45 Minuten gegen die Römer. Was er da mitansehen musste, machte ihn fassungslos: „Die zweite Halbzeit macht mich ratlos, warum wir in der zweiten Hälfte so den Faden verloren haben. Wir haben den Faden verloren und dann noch alles dafür getan, noch in Rückstand zu geraten.“
In der 67. Minute hatte Abwehrspieler Dayot Upamecano einen bitteren Elfmeter verursacht und für sein wildes Hinlangen auch noch Rot gesehen. Ciro Immobile verwandelte sicher, 0:1. Auf der Bank schüttelte Tuchel bereits zum wiederholten Mal den Kopf. „Frustriert und sauer“, so sei es gerade um ihn bestellt. Und wieder diese eine Frage: Warum? Warum? Warum? Schon vorher war sein Team nach der Pause auf die nächste Pleite zugerannt. Nach „okayen bis guten“ 45 Minuten und ein paar Gelegenheiten, hatte Tuchel seine Spieler bestärkt, einfach so weiterzumachen. Ein, zwei kleinere taktische Anpassungen gab es. Aber nichts was erklärt, so der Trainer, dass seine Mannschaft dermaßen in sich zusammenfiel. Kein Mut mehr, keine Überzeugung. Viel Kopf, ganz wenig Freiheit. Ein Rückfall in den erschreckenden Topspiel-Modus.
„Uns fehlt es aktuell an diesem kompletten Selbstvertrauen. Wir haben immer wieder Unsicherheiten drin und haben im Moment auch nicht immer dieses Spielglück“, ärgerte sich Thomas Müller. Und noch mehr darüber, dass sein Team, in der ersten Halbzeit nicht in Führung gegangen war. Da hatte es aus seiner Sicht nämlich die gewünschte Reaktion aufs Bayer-Fiasko gegeben. „Wir hatten klare Torchancen, nur wir haben es verpasst, Tore zu erzielen und die Reaktion in ein positives Ergebnis umzuwandeln.“
Im zweiten Spiel nacheinander brachten die Münchner keinen Ball aufs Tor. Bedeutet: Starstürmer Harry Kane war wieder nicht in der Show, dabei sollte genau das doch wieder gelingen. Die guten Gelegenheiten der ersten Hälfte flogen am Tor vorbei – oder drüber. Eine solch harmlose Bilanz hatte es tatsächlich lange nicht gegeben. Dabei hatte Tuchel ja auch über die Aufstellung versucht, Unberechenbarkeit und Führung in seine erste Elf zu bringen. Es kam Thomas Müller, der Edeljoker und Klartextplauderer. In dieser Spielzeit sind Startelfeinsätze für die Ikone immer ein Zeichen, dass nicht das ganz große Duell ansteht oder die Hütte brennt. Zweiteres war und bleibt der Fall. Doch so richtig wirkte die Maßnahme nicht. Er war bemüht und zog die Bälle an, in der harmlosen Offensive war er aber nicht der Knotenlöser. Ebenso wenig wie der bemühte Antreiber Joshua Kimmich. Dem man zwar nichts vorwerfen, aber eben auch nicht zuschreiben konnte, dass er die Leichtigkeit zurückbrachte.
Was nun? Tuchel gehen langsam die Argumente aus. Am Sonntag reist seine Mannschaft zum VfL Bochum, eine kampfstarke Mannschaft, die vor allem im eigenen Stadion unangenehm zu bespielen ist. Kaum ein Spiel, in dem sich glänzen lässt. Dabei bräuchten Trainer und Mannschaft genau das mal wieder, um sich von dem Gewicht zu befreien, das sie seit Wochen und Monaten mit sich herumschleppen. Auf die Frage nach den Gründen für die stets wiederkehrenden Probleme antwortete er: „Wir sind dran, der Schlüssel ist definitiv noch nicht gefunden.“ Und, ja: „Es ist selbstverständlich meine Verantwortung, die Mannschaft da hinzubringen, das besser zu machen.“
Bis das gelingt, greifen die etablierten Mechanismen des Geschäfts: Druck und Diskussionen. Die könnten die Medien gerne führen, sagte Müller auf die Frage, ob Tuchel noch der richtige Trainer sei. „Da sind wir Spieler erstens die völlig falschen Ansprechpartner und das ist auch ein Stück weit respektlos. Klar ist die sportliche Situation aktuell nicht gut und alles andere, was der FC Bayern sich vorstellt, das ist völlig klar. Trotzdem arbeiten wir jeden Tag dran, wir Spieler und der Trainer auch, den Bock umzustoßen.“ Die Öffentlichkeit brauche gar nicht erst zu hoffen, „dass wir uns selbst zerfleischen, wir stehen zusammen“, sagte der Routinier. Noch ist ja auch nichts passiert.