In der Medizin wird immer zwischen Nutzen und Risiko abgewogen. Nebenwirkungen müssen im Beipackzettel verzeichnet werden. Das hat viel größere Auswirkungen auf manche Patienten als bisher gedacht.
Müdigkeit, Herzrasen, Atemnot – wenn man im Beipackzettel eines Medikaments die Liste der möglichen Nebenwirkungen durchliest, kann einem ganz anders werden. Vor einer Operation das gleiche – der Arzt kommt zum Aufklärungsgespräch und erzählt vor allem, was alles schiefgehen kann. Das Problem dabei: Bei vielen Patienten kreisen die Gedanken dann nur noch um Komplikationen und Nebenwirkungen, und prompt treten sie auch auf.
Nocebo-Effekt nennt die Medizin das – ein negativer Placebo-Effekt. Gemeint sind dabei positive (Placebo) oder negative (Nocebo) Veränderungen des Gesundheitszustands, die nicht auf die eigentliche Wirkung von Medikamenten oder Operationen zurückzuführen sind.
Die Auswirkungen dieser Effekte sind offensichtlich viel größer als lange gedacht, sagen Experten, die sich zum größten internationalen Kongress zur Placebo-Forschung im Ruhrgebiet getroffen haben. Die Erkenntnisse können dabei helfen, Behandlungen effektiver zu machen, indem Mediziner anders kommunizieren.
„Placebo- und Nocebo-Effekte sind nicht einfach Einbildung. Wir wissen, dass es zu sehr komplexen neurobiologischen Phänomenen kommt“, erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Neurologie und Leiterin des Zentrums für Schmerzmedizin an der Uniklinik Essen.
Dass Aufklärungsgespräche vor Operationen und die Beipackzettel von Medikamenten den Fokus vor allem auf die Risiken richten, sei deshalb nicht unproblematisch, findet Bingel. „Im Beipackzettel steht auf drei Seiten kurz gefasst ‚Tod und Verderben‘. Aber da steht überhaupt nicht, welcher Therapieeffekt in Ihrer speziellen Situation erreicht werden soll“, sagt die Placebo-Spezialistin.
Ben Colagiuri, Professor für Psychologie an der Universität Sydney, hat in einer Studie Patienten auf zwei verschiedene Weisen über die Nebenwirkungen einer Chemotherapie informiert. Einer Gruppe erzählten die Forscher, dass bei 30 Prozent der Patienten Übelkeit auftritt. Der anderen Gruppe erzählten sie, dass bei 70 Prozent der Patienten keine Übelkeit auftritt. Das Ergebnis: Die Patienten, denen die Botschaft positiv vermittelt wurde, litten seltener an Übelkeit.
Auf Basis der Placebo-Forschung könnten Ärzte inzwischen geschult werden, wie sie mit einer empathischen Haltung und einer positiven Kommunikation eine Behandlung unterstützen, sagt Andrea Evers, Professorin für Psychologie an der Universität Leiden in den Niederlanden. „Man kann lernen, auch mit wenig Zeit die Placebo- und Nocebo-Effekte zu berücksichtigen“, sagt sie.
Wenn medizinisches Personal vor einer Spritze sagt: „Das tut jetzt kurz weh“ – dann tut es dem Patienten auch weh. Schon kleine, beruhigende Wörter könnten einen großen Unterschied machen, sagt Evers. „So können wir die Gesundheitsversorgung verbessern, den Patienten helfen, und auch die Kosten reduzieren, weil die Behandlung effektiver ist.“
Dabei dürfe der Placebo-Effekt in der Schulmedizin aber immer nur ein Zusatznutzen zu einer wissenschaftlich fundierten Behandlung sein, betonen die Forschenden. Genau in diesem Zusatznutzen sehen sie auch den entscheidenden Unterschied zur Homöopathie und anderen alternativen Heilmethoden. Heilpraktiker machten im Umgang mit ihren Patienten ohne Zweifel vieles richtig, indem sie sich Zeit nähmen, Rituale einbauten, gut informierten, sagt Bingel. „Das sind alles Aspekte, wo wir fragen müssen: Haben wir die in der Medizin verloren?“
Sie betont aber auch: „Die Homöopathie beruht auf einem Wirkmodell, das nach aktuellem wissenschaftlichem Stand nicht existiert. Da täuscht man einen Patienten. Und das wollen wir ausdrücklich nicht, wenn wir uns den Placebo-Effekt in der wissenschaftlichen Medizin zunutze machen.“
Bingel wünscht sich, dass die richtige Kommunikation mit Patienten für Mediziner genauso selbstverständlich zur Aus- und Weiterbildung gehört wie die Herz-Lungen-Wiederbelebung. Bislang entwickele sich dieser Bereich eher langsam. „Für einen Arzt lohnt es sich finanziell auch mehr, eine weitere apparative Diagnostik zu machen, als mit dem Patienten mal in Ruhe zu sprechen.“ Das müsse sich ändern. Bei Medikamenten empfiehlt sie, neben dem juristisch nötigen Beipackzettel noch eine Patienteninformation dazuzulegen, die verständlich über die Wirkweise und vor allem über den Nutzen des Wirkstoffs informiert.
Langfristig könnte der Placebo-Effekte schon gleich in der Medikamentenentwicklung berücksichtigt werden. Dann, so hofft die Professorin, könnte ein neues Medikament am besten gleich zusammen mit einem individuell anpassbaren Informationspaket auf den Markt kommen – und mit dem Hinweis, dass der Wirkstoff am besten in Verbindung mit einem begleitenden Arztgespräch funktioniert.