Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar produziert eine bemerkenswerte Statistik: Beim Elfmeter, so zeigen es die Zahlen, stehen die Schützen vor deutlich größeren Problemen als noch vor vier Jahren. Die Beobachter der FIFA versuchen sich an Erklärungen.
Peter Handke schrieb die Erzählung „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ – bei der WM in Katar heißt es eher: „Die Angst des Schützen beim Elfmeter!“ Denn die Weltmeisterschaft hat Erstaunliches zutage gefördert. Laut den Experten der Technical Study Group (TSG) liegt die Zahl der gehaltenen Strafstöße ohne das Elfmeterschießen bei 36 Prozent, vor vier Jahren in Russland waren es 17 Prozent. Und auch bei den vier Elfmeterschießen in Katar gab es zahlreiche Fehlschüsse – und demzufolge niedrige Ergebnisse: 3:1, 3:0, 4:2 und 4:3.
Den bislang letzten Strafstoß im Turnier versiebte ausgerechnet Englands Kapitän Harry Kane gegen Weltmeister Frankreich (1:2). Er setzte den Ball nach VAR-Entscheid über das Tor, nachdem er zuvor noch per Strafstoß (54.) zum 1:1 getroffen hatte. Das Aus der Three Lions war damit besiegelt. Ex-Bundestrainer Jürgen Klinsmann hat bei Kanes Fehlschuss etwas Besonderes festgestellt. „Man denkt nach – es ist eine andere Geschichte, wenn man sofort nach dem Pfiff schießen kann“, sagte das TSG-Mitglied.
Der Videobeweis dauerte beim Kane-Elfer eine ganze Weile. Ist also die Zeitspanne zwischen Pfiff und Ausführung für den Schützen Gift? Es scheint so, zumal die Unparteiischen immer wieder lähmend lange die Keeper vor der Ausführung darauf hinweisen, dass sie die Torlinie mit einem Fuß berühren müssen. Der eigentliche Nachteil für die Torhüter ist mittlerweile fast ein Vorteil.
Babett Lobinger vom Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule (DSHS) in Köln entgegnete mit Blick auf den Kane-Elfer allerdings: „Auch das hat er hoffentlich trainiert – er muss die Zeit überbrücken und die Routine neu starten. Das kommt ja durchaus vor, also muss es auch so trainiert werden. Es gibt keine einfachen Schlüsse in komplexen Situationen. Warum ist er zum Beispiel auch zum zweiten Elfmeter angetreten?“
Außerdem: Die Schlussleute haben offenbar viel dazugelernt. „Hier geht es um das Timing, es geht um den ersten guten Schritt, den man macht als Torhüter“, ergänzte TSG-Mitglied Pascal Zuberbühler. Die Entwicklung des Torwartspiels bei Elfmetern sei „unglaublich“. „Es wurde immer gesagt, dass es negativ ist und der Torhüter leidet, wenn er mit einem Fuß auf der Torlinie bleiben muss“, meinte der frühere Keeper, aber es sei „eindeutig, dass die Torwarttrainer das sehr gut mit ihren Torhütern trainieren“.
Ex-Torhüter Faryd Mondragon (früher 1. FC Köln), ebenfalls TSG-Mitglied, lobte das „Timing“ und die „Explosivität“. Zuberbühler hob besonders die Leistungen des kroatischen Schlussmanns Dominik Livakovic hervor, der in den beiden Elfmeterschießen der Kroaten überzeugt hatte. Auch Argentiniens Emiliano Martinez habe „unglaubliche Bälle“ gehalten im Elfmeterschießen gegen die Niederlande, „er war so explosiv“. Das Elfer-Roulette könnte in den letzten vier K.-o.-Spielen weitergehen. Und die Torhüter hoffen auf eine Fortsetzung ihrer Erfolgsserie beim Duell mit dem Schützen aus elf Metern.