Gegen Costa Rica wird Manuel Neuer zum alleinigen Rekordtorwart bei Fußball-Weltmeisterschaften. Ein Meilenstein in der großen und erfolgreichen Karriere des Münchners. Einen peinlichen Turnier-Schlusspunkt, wie einst sein Vorgänger Sepp Maier, will er nicht erleben.
Für Hansi Flick klingt jede Kritik an Manuel Neuer wie Blasphemie. Wenn Deutschlands Nummer eins an diesem Donnerstag im entscheidenden Gruppenspiel der Fußball-Nationalmannschaft gegen Costa Rica mit seinem 19. WM-Einsatz zum alleinigen Rekordtorhüter vor Sepp Maier und Brasiliens Claudio Taffarel wird, gibt es für den Bundestrainer keinen Grund für irgendwelche Zweifel. „Er hat das Torwartspiel auf ein anderes Niveau gebracht, deswegen ist er für mich immer noch die Nummer eins der Welt.“ Dieser vor dem Turnier geäußerte Flick-Satz steht wie eine Grundsatzerklärung über den kleinen Fragezeichen, die Neuer bei seiner vierten WM begleiten.
Fehler beim Spiel mit dem Ball am Fuß, das er für Torhüter revolutionierte, Sicherheit, Lässigkeit und Präzision? Haben die diversen Blessuren vom Mittelfuß vor der WM 2018 bis zum Schulterdach im Herbst ihre Spuren hinterlassen? Muss auch Modellathlet Neuer mit 36 Jahren dem Verschleiß von Tausenden Trainingseinheiten, unzähligen Paraden und dem Dauerdruck im Rampenlicht Tribut zollen? Für die WM-Konkurrenz muten diese Fragen merkwürdig an. Jeder der 32 Turnier-Trainer wäre froh, Manuel Neuer im Kader zu haben. „Manuel“, ist sich Flick sicher, „ist nach wie vor die Nummer eins auf der Welt.“ Doch auch ein Top-Torhüter ist nicht unfehlbar.
Zum Fluch werden für Neuer gerade seine unendlich vielen guten Torwart-Taten. Verglichen werden plötzlich zwei Aktionen im kurzen Torwart-Eck: die Hand blitzschnell nach oben gereckt gegen den Power-Schuss von Frankreichs Karim Benzema im WM-Viertelfinale 2014. Eine Monster-Parade, die den Weg zum WM-Sieg ebnete. Und diesmal, acht Jahre später in Katar: Beim Schuss von Japans Takuma Asano die Schulter weggedreht, den Kopf leicht eingezogen. Die Lücke gelassen. Das 1:2 zur Auftaktpleite gegen Japan. Für Flick ein unfairer Vergleich: „Die Gegentore müssen wir anders verhindern.“
Auf dem Medien-Boulevard werden schon ehemalige Torwart-Größen von Bodo Illgner bis Jens Lehmann bemüht, um die aktuellen Leistungen Neuers zu bewerten. Offene Kritik gibt es am Bayern-Schlussmann (noch) nicht. Neuer bleibt für alle das Nonplusultra. An Neuers Status als Führungsspieler wird im Zulal Wellness Resort als DFB-Refugium auch nicht gerüttelt. Jungspunde wie Jamal Musiala oder Karim Adeyemi blicken zu ihm auf und sprechen über ihre Bewunderung.
Die DFB-Pressekonferenz mit WM-Teenager Youssoufa Moukoko wurde zum charmanten Talk der Generationen. Neuer war locker wie selten bei solchen Auftritten. Die Torwart-Hierarchie ist ohnehin unumstößlich. Marc-André ter Stegen (30 Jahre/30 Länderspiele) hat sich in seine DFB-Lebensrolle als Nummer zwei gefügt. Kevin Trapp (33/6) ist, beseelt von seinen Top-Leistungen für Eintracht Frankfurt, eine zufriedene Nummer drei. Im Land gibt es derzeit keinen Torwart unter 30, der je ein Länderspiel bestritt. Auch das ist Ausdruck für Neuers Torwart-Hegemonie seit der WM 2010.
Neuer ist ein Profi durch und durch. Er hinterfragt sich in allen Bereichen, um sein Top-Niveau zu halten. Vor ein paar Jahren begann er, gesünder zu essen. Er backt sein eigenes glutenfreies Brot, verzichtet auf rotes Fleisch und auf Kuhmilchprodukte. Das habe ihn leistungsfähiger gemacht, sagt er. Ein Lautsprecher war Neuer dagegen nie, doch sein Wort hat im Verein und in der Nationalmannschaft Gewicht. Mit seiner Ruhe und Gelassenheit gibt er seinen Nebenleuten ein gutes Gefühl. Dabei wollte er als Kind gar nicht in die Kiste. „Der Doofe muss ins Tor“, lautete das Motto auf dem Bolzplatz, verriet Neuer im „Spiegel“-Interview: „Aber so doof war das gar nicht für mich.“ Als Jugendtorwart bei Schalke 04 kam ihm entgegen, dass der Rückpass verboten und sein Aufgabenbereich so revolutioniert wurde.
14 Gegentore kassierte Neuer in seinen bislang 18 WM-Spielen. Eine ähnlich blendende Quote hat er mit 111 Gegentoren in allen seinen 116 Länderspielen. 47 Mal spielte er für Deutschland zu null. Gegen Costa Rica soll nun endlich auch in einem WM-Spiel wieder die Null stehen. Letztmals ohne Gegentor blieb er im triumphalen Finale 2014 beim 1:0 nach Verlängerung im Maracanã gegen Argentinien.
Im Al-Bait-Stadion von Al-Khor wird Neuer bei seinem Rekordspiel gegen den großen Außenseiter vermutlich selten im Blickpunkt stehen. „Wir müssen uns auf unser Spiel fokussieren, unsere Hausaufgaben machen, unsere Pflicht erfüllen“, forderte der DFB-Kapitän. An seinem Ehrgeiz hat sich nie etwas geändert, seit jenem legendären Video aus Westerholt, als Neuer als Fünfjähriger mit Riesen-Teddy unterm Arm ein Gegentor beweinte.
Womöglich gingen auch Neuer wie Thomas Müller (33 Jahre/18 WM-Spiele) als zweitem Turnier-Veteran in Katar in diesen Tagen schon die Gedanken durch den Kopf, dass die persönliche WM-Historie nicht zu einem unschönen Ende kommen darf. Sepp Maier, den er als Rekordtorwart ablöst, spielte seine 18. und letzte WM-Partie 1978 beim 2:3 gegen Österreich, der Schmach von Córdoba. Eine Schmach von Al-Khour gilt es für Neuer zu vermeiden.