Der Trend ist eindeutig: Seit zehn Jahren steigt die Armut in Deutschland, wie nun eine Studie zeigt. Die Folgen für die Betroffenen: eine eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe, mehr Krankheiten, eine größere Unzufriedenheit. Auch wächst dadurch offenbar die Distanz zum politischen System.
Die Armut in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich angestiegen – und der „soziale Stresstest“ hält wegen Rekordinflation und Corona-Pandemie weiter an. Das ergab der nun veröffentlichte neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Die Studie zeigt demnach zudem, wie stark dauerhafte Armut in Deutschland die gesellschaftliche Teilhabe schon in wirtschaftlich stabilen Zeiten einschränkt.
Der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber dem mittleren Einkommen der Gesamtbevölkerung sei schon vor Beginn der Corona-Krise um ein Drittel gegenüber dem Jahr 2010 gewachsen. Auch die Ungleichheit der Einkommen insgesamt in Deutschland habe 2019 einen neuen Höchststand erreicht, ergab der Verteilungsbericht weiter.
Die Studie zeigt laut WSI zudem, wie stark dauerhafte Armut in Deutschland die gesellschaftliche Teilhabe schon in wirtschaftlich stabilen Zeiten einschränkt. Arme müssten etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie eine Grundausstattung mit Kleidung oder Schuhen verzichten, sie könnten seltener angemessen heizen, lebten auf kleinerem Wohnraum. „Sie haben einen schlechteren Gesundheitszustand, geringere Bildungschancen und sind mit ihrem Leben unzufriedener.“
Das führe bei vielen Betroffenen zu einer erhöhten Distanz gegenüber dem politischen System: Dem Bericht zufolge halten lediglich 68 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze die Demokratie für die beste Staatsform. Nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut. „Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestigen“, sagte WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch.
„Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut ist also nicht nur notwendig, um den direkt Betroffenen zu helfen, sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.“ Das gelte umso mehr, „da in Zeiten von hoher Inflation sozialer Abstieg auch Menschen droht, die sich während des vergangenen Jahrzehnts darum wenig Sorgen machen mussten“. Kohlrausch begrüßte in dem Zusammenhang die geplante Einführung des Bürgergelds.
Ein eindeutiges Ergebnis zeigt sich mit Blick auf die Migration. Einen direkten oder indirekten Migrationshintergrund haben unter den Armen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich mehr Menschen (38 Prozent zu 16 Prozent). Dabei sind Personen mit einem direkten Migrationshintergrund noch stärker von Armut betroffen als Menschen mit einem indirekten Migrationshintergrund (23 Prozent zu 15 Prozent).
In dem neuen Verteilungsbericht wertete das WSI die aktuellsten vorliegenden Daten aus zwei repräsentativen Befragungen aus: Zum einen aus dem sogenannten sozio-ökonomischen Panel, für das rund 16.000 Haushalte jedes Jahr interviewt werden, und das aktuell bis 2019 reicht. Zum anderen aus der Lebenslagenuntersuchung der Hans-Böckler-Stiftung, für die 2020 und 2021 gut 4000 Menschen befragt wurden.
Hinzu kommen den Angaben zufolge Daten aus einer Repräsentativbefragung, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Stiftung im August 2022 zur Inflationsbelastung vorgenommen habe. Als arm definieren die Forscherinnen gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt.